Beeindruckend. "Untertauchen" heißt der neue Gedichtband von Heinrich Detering. Ein Buch, das Weltreisen und Tiefseeabenteuer, Gedanken und Gefühl und ganz eigene Kommentare zur Weltliteratur in sich vereint.
Detering überrascht mit ungewöhnlichen Perspektiven auf altbekannte biblische Themen, schildert Situationen und Begegnungen von beinahe novellistischer Qualität. Irgendwo zwischen zynisch, sensibel und eigensinnig kommen die neu gedeuteten Geschichten daher. Wer hat je darüber nachgedacht, wie es war, als Lazarus zum zweiten Mal gestorben war, diesmal endgültig, und Jesus wieder begegnete? Ein kurzer Blick, ein Lächeln des Einverständnisses, und das Gefühl, dass alles in Ordnung sei. Oder damals, als Abraham loszog, um seinen Sohn Isaak zu opfern? Der Sohn hatte keine Angst, als er mit seinem Vater auf den Berg ging und sie keinen Widder für das Opfer dabei hatten. Aber wie mag der Esel, der das Feuerholz trug, innerlich gezittert haben ...?
Hagar, die verstoßene Magd Abrahams, sitzt allein in Detmold und verbirgt ihr Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch, und der Samariter, der den blutenden Mann am Wegesrand auflas, muss sich vor den seinen rechtfertigen und beginnt zu weinen, bittet um gerechte Strafe, verspricht Wiedergutmachung, doch erst, als er begann
kurz vor Sonnenaufgang zu schwören
niemals mehr so unüberlegt zu handeln
da erwiesen zögernd die Samariter
sich ihm barmherzig
Erinnerungen an den Großvater werden wach, ein "ernster Bibelforscher", in der Familie als verschroben und etwas wunderlich geltend:
so dauerte es ein paar Wochen ehe
man verstanden hatte er war deportiert
nach Buchenwald wie die Spartakisten die
auch nicht mehr zurückkamen die Famile
sprach nie mehr davon bis ich achtzehn war die
Schande diese Schande
Märchenfiguren wie die Glücksmarie ("jede Nacht fällt das Kind in den Brunnen / jede Nacht fällt es aus allen Wolken") oder Rumpelstielzchen ("heute back ich / morgen brau ich / übermorgen hol ich / tief Luft und blas mich auf") treffen auf den schlaflosen Klopstock unterm Sichelmond oder Alexander Selkirk, den Schiffbrüchigen, der zur Vorlage des Robinson Crusoe wurde. Dazwischen summt der thailändische König Bhumipol, der auch als Jazzmusiker aktiv war, und Elvis Presley erfährt eine Hommage im "Landregen in Tennessee", ausnahmsweise in Prosa.
Ist es eine Kindheitstragödie oder ein brutaler Mord, als der kleinen Mönchsgrasmücke, die unter dem Fenster liegt, das Genick wieder eingerenkt werden soll und dabei bricht? Der Vogel wird im Garten begraben, und der Erzähler versteht nicht, "warum hing denn der kleine Kopf herab". Doch:
nachts sah ich sie die Flügel lautlos breiten
sie schüttelte sehr leicht die Erde ab
dann flog sie singend in den Mondschein hinauf
Überhaupt, die Tiere. Detering hat nicht nur ein gutes Auge für Naturschilderungen und einen warmen Kindheitstonfall, wenn er sich an Begegnungen mit Tieren in seiner Jugend erinnert. Da ist auch der naturwissenschaftliche Blick, die Erinnerung an den Tauchpionier Eugen von Ransomnet und seine Forschungen, und Detering betritt auch die Welt des Tierversuchslabors, wenn er beispielsweise als Lebensratschlag gibt: "besser ist es die Kontrollmaus zu sein" - was immer im Tierversuch herausgefunden werden soll, welche Qualen und Experinemte die Versuchsanordnung auch vorsieht:
die Kontrollmaus muss nur da sein
kopflos beinlos verstümmelt verreckt
immer nur die andere.
Und sicher noch niemals hat sich ein Dichter wohl so ausführliche Gedankenen über die zerebralen Fähigkeiten eines Insekts gemacht wie Detering in seinem abschließenden Gedicht "Das Fliegengedächtnis". Alle 1,8 Sekunden erlischt das Gedächtnis einer Fliege, und die Welt beginnt für sie von vorn, heißt es,
dreimal so schnell wie es dauert
diese sechs Verse zu lesen die
schon vorbei sind
Arme Fliegen. Der menschliche Leser wird diesen gelungenen und gedankenreichen Gedichtband auf jeden Fall länger im Gedächtnis behalten. Hochverdient.
Heinrich Detering: Untertauchen. Gedichte. Göttingen: Wallstein Verlag, 2019. 96 S., Euro 20.
© Petra Hartmann