Zu meinen Lieblingsautoren gehört der New Yorker Autor Nick Mamatas, der in Romanform zuletzt 2014 eine Zombi-Dystopie namens »The Last Weekend« veröffentlichte. Hier eine ältere Besprechung seiner Schauergeschichte »Northern Gothic«, die deutschsprachig als Liebhaberausgabe in der Edition Phantasia (2007) erschienen ist, aber auch nach wie vor preisgünstig im englischspr. Original bei Soft Skull Press lieferbar ist.
Beurteilung
Wenn es um die kulturelle Bedeutung der amerikanischen Freiheitsstatue geht, wird immer wieder ein dem irischen Dramatiker George Bernard Shaw zugeschriebenes Zitat kolportiert. »Man nennt mich allenthalben einen Meister der Ironie, aber auf die Idee, ausgerechnet im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten, wäre nicht einmal ich gekommen.« Alles andere als abwegig ist es, eine Rezension von Nick Mamatas’ »Northern Gothic«, eine New Yorker Schauergeschichte, mit Shaws Ausspruch zu beginnen. Denn Mamatas’ timeslip-Roman erzählt eine wenig ruhmreiche Geschichte New Yorks, die Shaw wohl nicht nur in ihren schroffer Ablehnung des amerikanischen Freiheitsmythos und der Mär vom selfmade man gefallen hätte.
Die beiden Handlungsstränge der Geschichte, die alternierend auf unterschiedlichen Zeitebenen spielen, werden von Mamatas in phantastischer Manier miteinander verwoben. Der erste Handlungsstrang spielt im Sommer des Jahres 1863, also 23 Jahre vor der Einweihung der Freiheitsstatue, und schildert den verhängnisvollen Amoklauf eines jungen irischen Dockarbeiters. Wie viel sein Leben wert ist, erfährt William Patten von einem Aushang der amerikanischen Regierung in New York, die alle waffentauglichen jungen Männer zum Wehrdienst ruft: brutale 300 Dollar, seinen ganzen Jahresgehalt, müsste er berappen, um den Bürgerkrieg zu verweigern. Den drohenden Fronttod vor Augen, machen die Hafenarbeiter den Sündenbock im eigenen Lager aus und rotten sich unter Pattens Anführerschaft zusammen, um gegen den Einsatz farbiger Arbeiter zu protestieren, die dieselbe Arbeit für noch weniger Gehalt machen und so angeblich die Löhne kaputtmachen. Der Streik gerät außer Kontrolle und wird zur Lynchjagd, die schließlich in die Brandsetzung eines Waisenhauses für farbige Kinder und in die Schändung und Tötung farbiger Arbeitskollegen mündet. Schließlich greift die Armee ein und Patten wird standrechtlich erschossen, um noch im Moment seines Todes seine Rechte als freier und weißer Amerikaner zu beschwören.
Die zweite Handlungsebene spielt im Juli 1998: Ahmadi Jenkins, ein schwuler Afro-Amerikaner, zieht aus South Carolina nach New York und nimmt zufällig eine Wohnung in dem Haus, in dem Patten vor hundertvierzig Jahren gelebt hat. Jenkins scheitert sowohl in seinem Versuchen, als Tänzer in New York Fuß zu fassen, als auch Freundschaften zu knüpfen – so wird er von seinem Freund Sammy ausgenutzt und brutal vergewaltigt. Die Erzählebenen vermischen sich und die Geschehnisse aus dem 19. Jahrhundert werfen ihren Schatten bis in Jenkins’ Gegenwart. Bei einem Spaziergang zum Hudson River begegnet ihm ein Afro-Amerikaner, der, in panischer Angst gelyncht zu werden, in den Fluss springt. Jenkins rettet ihn vor den Augen von Sammy, der im Wasser jedoch nichts erkennen kann. Zudem plagen Jenkins »böse Gedanken«: »Daß ich ein Sklave war, daß ich vergewaltigt wurde, daß man mir die Eier abgeschnitten hat. Nichts Unterbewußtes, weißt Du, nur... Terror, aber auch wie eine Erinnerung.« Jenkins’ Pechsträhne geht weiter, als dann ausgerechnet noch seine Wohnung abbrennt und er zu persona non grata und einem öffentlichen Ärgernis wird: »In den vergangenen Tagen hatten Ahmadis harmlose Gutmütiger-Trottel-Schwingungen nachgelassen und waren einer zunehmend ausgeprägteren Wilder-Negerstamm-Aura gewichen. Der Mann im Kiosk wusste schon, daß er ihn besser nicht anlächeln oder allzu aufdringlich anstarren sollte, wenn er zum Geldautomaten ging und sich ohne Geld herauszunehmen wieder entfernte. Gestern konnte er noch alten Damen zulächeln und die lächelten zurück. Heute hasteten sie wie auf einer Pfütze voll Murmeln an ihm vorbei und hielten schützend ihre Handtaschen fest. Gestern hatte er dazugehört. Heute bildete er die Vorhut einer Armee von Straßenräubern, Heroinsüchtigen und obdachlosen, zahnlosen Bürgersteigpissern und verkommenen Subjekten. […] Ein Stupser der Stiefelspitze eines Polizisten und er war keine quietschvergnügte Schwuchtel mehr, sondern ein muskulöser und möglicherweise derangierter analphabetischer Nigger.« Bei dem Versuch, die Stadt zu verlassen, wird Jenkins schließlich von einem Taxifahrer überfahren und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. In einem Schlafsaal, den er sich mit acht älteren Patienten teilt, wird er in einer letzten Traumvision von William und seinem weißen Lynchmob aufgesucht.
Meisterhaft bedient sich Mamatas den Konventionen des timeslip-Romans, wie etwa der geisterhaften Kommunikation zwischen Jenkins und Patten, um Kontinuitäten von Rassismus in den USA aufzuzeigen, die Anschließbarkeit der Jetzt-Zeit an den blindwütigen Rassenhass der ›Gründungsväter‹ von New York. Die Darstellung des Gewaltausbruchs im New Yorker Hafen ist nicht nur ein minutiös recherchiertes und historisch verbürgtes Beispiel, wie Gewalt entsteht, wenn die Abstraktion empirischer Realität in schizophrene Phantasmagorie mündet und sich Unterbewusstes in eruptiver Gewalt entlädt, der Roman ist nicht nur Krankengeschichte, sondern auch Gesellschaftskritik: Wenn etwa bei Pattens Erschießung ein junger Soldat, noch fast ein Kind, an ihm vorbeischießt und sich mit ihm solidarisiert, wird deutlich, dass die Beseitigung des Rassenhasses dem Kampf mit der Hydra in der griechischen Mythologie ähnelt.
Und fast mühelos gelingt Mamatas am Beispiel Jenkins die Vermittlung der Erkenntnis, dass Afro-Amerikaner auch noch im vermeintlich liberalsten Umfeld enormen Zwängen und Abhängigkeiten ausgeliefert sind. New York wird dabei als eine Stadt der Illusionen sichtbar, die nur mangelhaft ihre weiterhin schwelenden Kämpfe, die Galgenbäume und sozialen Widersprüche kaschiert. Den Leser erschaudern lässt also weniger die phantastische Geistergeschichte als die dargestellte Fremdbestimmung, Leere und Verlogenheit der metropolitanen und metrosexuellen Gesellschaft, die immer feinere Methoden entwickelt, Schwächere auszugrenzen und zu beherrschen. Zusätzlich verstörend wirkt dabei die Teilnahmslosigkeit und blutleere Lethargie Jenkins, die etwa an die Figur Karl Rossmanns in Kafkas »Amerika«-Roman erinnert.
Der edlen Aufmachung des Romans in einer limitierten und durch ansprechende Zeichnungen von Thomas Franke und Reinhard Kleist bereicherten Sonderedition zum Trotz ist »Northern Gothic« kein Sammlerstück, das im Regal verstauben darf. Ganz im Gegenteil: Dass Literatur und Subversion heutzutage durchaus noch eine Menge miteinander zu tun haben, brachte Mamatas in einem Interview mit Joachim Körber (phantastisch! Nr. 28) selbst auf den Punkt: »Für mich sind Bücher und die amerikanische Kultur schon längst nicht mehr ein und dasselbe; Lesen, besonders Science Fiction und Fantasy ist Gegenkultur in den USA.« Wer sich von der Gültigkeit dieser Selbstauskunft überzeugen will, greife zu »Northern Gothic«. (bf)
Gesamteindruck: +++++ (5/5)
Bibliografische Angaben: Dt. Erstausgabe: Nick Mamatas: »Northern Gothic«. Eine New Yorker Schauergeschichte. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber. Mit je fünf Illustrationen von Thomas Franke und Reinhard Kleist. Edition Phantasia 2007, 154 Seiten, ISBN 978-3-924959-78-4
[Rezension zuerst erschienen in: phantastisch! 30. April 2008. ISSN 1616-8437. Für den vorliegenden Blog-Beitrag leicht überarbeitet.]