Erster Eindruck: Ich habe zwar nicht den Klappentext gelesen, um mich nicht von wirren Zusammenfassungen beeinflussen zu lassen. Aber ich finde das Cover mal wieder überragend. (Mal wieder: letzter - und erster - Dick von Liebeskind: Unterwegs in einem kleinen Land)
Könnten doch alle Dicks in einer Werksausgabe ähnlich aufgemacht veröffentlicht worden sein!
Erfreut stelle ich fest, dass ich diesmal, im Gegensatz zu 99% anderer Dick-Romane, keine Tippfehler finde. Sehr symphatisch! Selbst die Phantasia-Bücher strotzen dagegen vor Flüchtigkeitsfehlern, und Liebeskinds Dick kostete die Hälfte (22 Euro).
Zweiter Eindruck: Ich resümiere, dass das der früheste Dick ist, den ich je gelesen habe. Vorher war es "solar lottery". Stimmen der Straße wurde 1952 geschrieben, und soweit ich weiß gab es neben einem Frühwerk von 1941 nur zwei weitere, unveröffentlichte Romane vorher (Earthshaker (1948), Gather Yourselves Together (1949). Außer dreien habe ich alle auf deutsch erschienenen Romane gelesen, daher ist meine Vorfreude immens, auch wenn ich vermute, dass der Roman womöglich nicht der Tollste sein wird, den er geschrieben hat
Dritter Eindruck:
Nach den ersten 50 bis 60 Seiten
empfinde ich die Geschichte als vom Stil her seltsam vertraut, auch wenn Dick sich etwa in der Präzision der Ausarbeitung seiner Charaktere im Laufe seines Lebens noch wesentlich entwickeln wird. Aber, Dick ist 1928 geboren, schrieb "voices of the street" also mit 24 Jahren! Wenn ich mir überlege, wo ich mit 24 Jahren stand ...
Vierter Eindruck: Nach den ersten ca. 200 Seiten (Gespräch Beckheim/Hadley)
weiß ich noch nicht, wo die Geschichte hinführen wird. Aber ich weiß, dass ich angenehm überrascht bin von der Komplexität der Geschichte, die keinesfalls als so - ich habe es auch mal "belanglos" genannt - subtile, kaum wahrnehmbare Gesellschaftskritik wie in anderen Mainstreamromanen daherkommt. Im Gegensatz zu "Milton Lumky", "Mary und der Riese" oder etwa "Unterwegs in einem kleinen Land" strotzt der Roman aus meiner Sicht vor Angriffen auf die Gesellschaftsordnung:
Mitten in der McCarthy-Ära schreibt Dick ein Buch, welches die gesellschaftlichen Gegensatzpaare "Faschisten" - "Kommunisten" thematisiert. Er beschreibt sie als gegeben in der US-amerikanischen Alltagskultur, und diese damit auch eingedenk der Bedeutung religiös-fanatischer Gemeinschaften wie den Wächtern Jesu als zerrissene Gesellschaft. Er lässt an McCarthy eindeutig kein gutes Blatt und bettet auch noch die jeweiligen, teilweise westküstenspezifischen Aversionen gegen das Judentum und gegen Juden ein. Dadurch gelingt es ihm, die Gesellschaft als Zerrbild widerstrebender Kräfte zu beschreiben, wie es historisch angemessen ist. Damit widerspricht Dick natürlich dem damals herrschenden Zeitgeist, sicherlich mit ein Grund dafür, dass das Buch damals keinen Verleger fand.
Ein wenig schwer erklärbar erscheinen mir zum jetzigen Zeitpunkt die Aussagen der Protagonisten zum Thema Antisemitismus und Juden. Mir scheint, Dick will zeigen, dass die Nation, die erst 1945 einheitlich und unter großer Aufopferung maßgeblich Europa und Deutschland im Namen universeller Werte von den Judenmörden befreit hat, sich nur sieben Jahre später als gesellschaftlich zutiefst zerrissen darstellt. Worauf das hinauslaufen wird, ist höchst spannend und momentan nicht abzusehen. Ich empfinde nur die Auslassungen zum Thema Antisemitismus als wesentlich ausführlicher, intensiver und wichtiger als in den wenigen anderen Büchern Dicks, in denen Juden überhaupt expressis personis vorkamen, wie z.B. Der Mann, dessen Zähne alle exakt gleich waren.
Momentan kann ich auch noch nicht genau im Roman nachvollziehen, aus welchem Grunde sich der Protagonist seiner Frau gegenüber (mal wieder) wie der letzte Arsch verhält. Das immer nur anhand Dicks Biographie zu erklären, scheint mir verfehlt; er war ja gerade 1952 gerade erst (zum zweiten Mal) verheiratet ... vielleicht zeigt er auf, dass gesellschaftliche Zerrissenheit die Familien bzw. Menschen zerstört?
Ironisch nehme ich zur Kenntnis,dass eingedenk der seitenlangen religiösen, augenscheinlich ironisch dargestellten Auslassungen Theodor Beckhams, "Voices of the street" die auf religiöser Ebene gesehene mir viel symphatischere Antipode zur "Valis"-Trilogie darstellt - das Alpha und Omega des Dickschen Werkes, Voices of the street und Valis.
Jedenfalls freue ich mich wahnsinnig auf die nächsten ca. 200 Seiten, und stelle fest, dass der Roman mit 396 Seiten der zweitlängste Dicks zu sein scheint? Stimmt das??
Mein vorläufiges Fazit in Kurzform, gab sicher schon bessere Dicks, warum mir seine Mainstreamromane sämtlich auch gefallen kann ich mir nicht so ganz eindeutig erklären; ich bin mal wieder völlig gefesselt und schon gespannt auf die nächste Hälfte, und würde den Roman jedem empfehlen, der schon mal einen Dickschen "Mainstream"-Roman gut fand ...
Bin mal gespannt wie andere das sehen ...
Bearbeitet von leibowitz, 03 September 2010 - 19:57.
Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben. (P.K.Dick)