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Bedeutung von Religion & Wissenschaft als "Kitt" der Gesellschaft


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70 Antworten in diesem Thema

#1 Lomax

Lomax

    Illuminaut

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 13:11

(Nur zur Info: Dieser Thread ist eine Abzweigung aus dem Wissenschafts-Thread zur Tempelanlage Göbekli Tepe - er folgt direkt nach dem 15. Beitrag dort. /Mod)

Aber meinst du nicht, dass das auch Grundlage einer Antwort auf die ewige Frage der (dt.) Intellektuellen sein könnte: Warum braucht der Mensch (heute noch) Religion?

Zunächst mal bestätigt es ja nur, dass Religion irgendwann mal einen Vorteil in der sozialen Organisation brachte. Ob das dann heute noch, mit den weitaus verbesserten Kommunikations- und Verwaltungskapazitäten, immer noch so notwendig ist, bleibt erst mal unbeantwortet. Ein stabilisierendes Gemeinschaftsgefühl kann sich durchaus auch aus anderen Quellen speisen - als verbindende Ideologie könnte ja prinzipiell erst mal alles dienen, bis hin zu betonter Antireligiosität ;) Wobei sich dann natürlich die Frage stellt, wo Religion aufhört und wo scheinbar nur politische Ideologien nicht selbst schon wieder religiösen Charakter annehmen.

Ich persönlich wäre jedenfalls durchaus geneigt, anzunehmen, dass Religion viel von ihrem ursprünglichen Wert verloren hat und heute eher entbehrlich ist. Ich erinnere mich an einen der letzten Gottesdienste, den ich besucht habe: In einer sehr alten Kirche, voll mit der Symbolik und Formensprache ihrer Zeit. Das war einer jener Augenblicke, wo ich auch noch gefühlt habe, was solche Orte beispielsweise im Mittelalter bedeutet haben - ein Netz von Stätten, die einheitliche und verbindende Botschaften übermittelt haben, die eine kulturelle Zusammengehörigkeit schaffen konnten auf einem Gebiet, das ansonsten wenig gemeinsames, aber viele trennende Lebensumstände und auch Herrschaftsformen hatte, und wo der Austausch einfachster Nachrichten mitunter eine Sache von Monaten sein konnte. Da war es nur die Religion, die überhaupt einen gemeinsamen Kulturraum Europa entstehen ließ, mit all den Synergien, dem Austausch und der zumindest gelegentlichen Mobilisierung gemeinschaftlicher Kräfte.
Ob sie heute, wo jeder mit jedem jederzeit reden kann, noch denselben Stellenwert beanspruchen kann? Ich hoffe eigentlich nicht.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)

#2 simifilm

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 13:30

Zunächst mal bestätigt es ja nur, dass Religion irgendwann mal einen Vorteil in der sozialen Organisation brachte. Ob das dann heute noch, mit den weitaus verbesserten Kommunikations- und Verwaltungskapazitäten, immer noch so notwendig ist, bleibt erst mal unbeantwortet. Ein stabilisierendes Gemeinschaftsgefühl kann sich durchaus auch aus anderen Quellen speisen - als verbindende Ideologie könnte ja prinzipiell erst mal alles dienen, bis hin zu betonter Antireligiosität ;) Wobei sich dann natürlich die Frage stellt, wo Religion aufhört und wo scheinbar nur politische Ideologien nicht selbst schon wieder religiösen Charakter annehmen.

Ich persönlich wäre jedenfalls durchaus geneigt, anzunehmen, dass Religion viel von ihrem ursprünglichen Wert verloren hat und heute eher entbehrlich ist. Ich erinnere mich an einen der letzten Gottesdienste, den ich besucht habe: In einer sehr alten Kirche, voll mit der Symbolik und Formensprache ihrer Zeit. Das war einer jener Augenblicke, wo ich auch noch gefühlt habe, was solche Orte beispielsweise im Mittelalter bedeutet haben - ein Netz von Stätten, die einheitliche und verbindende Botschaften übermittelt haben, die eine kulturelle Zusammengehörigkeit schaffen konnten auf einem Gebiet, das ansonsten wenig gemeinsames, aber viele trennende Lebensumstände und auch Herrschaftsformen hatte, und wo der Austausch einfachster Nachrichten mitunter eine Sache von Monaten sein konnte. Da war es nur die Religion, die überhaupt einen gemeinsamen Kulturraum Europa entstehen ließ, mit all den Synergien, dem Austausch und der zumindest gelegentlichen Mobilisierung gemeinschaftlicher Kräfte.
Ob sie heute, wo jeder mit jedem jederzeit reden kann, noch denselben Stellenwert beanspruchen kann? Ich hoffe eigentlich nicht.


Wie Du ja auch angedeutet hast, müsste man vor der Beantwortung dieser Frage (wobei mir neu ist, dass das die ewige Frage deutscher Intellektueller ist) klar machen, wie man Religion definiert resp. welchen Aspekt man hervorhebt. Wenn es primär um das Schaffen von Gemeinschaft geht (wohin Deine Ausführungen ja zielen), sind heute sicher andere Varianten denkbar und wahrscheinlich auch wichtiger. Wenn wir aber mehr den Aspekt der Sinngebung und Suche nach Transzendenz hervorheben, dann ist das ein Bereich, der nach wie vor sehr aktuell ist. Vieles davon spielt sich zumindest in unseren Breitengraden nicht mehr im Rahmen der traditionellen Religionen ab, aber Esoterik, New Age und viele andere Phänomene haben zweifellos einen stark religiösen Charakter. Auch Verschwörungstheorien [sci!] sind letztlich Ausdruck eines religiösen Weltbildes. Dass Menschen auch heute noch ein starkes Bedürfnis nach Sinnstiftung und Transzendenz haben, scheint mir offensichtlich. Wobei dann die Frage ist, wie sehr man den Aspekt der Gemeinschaft und Organisation hervorhebt - ist Religion etwas, was immer auf einer Gruppe von Menschen, bestimmten Regeln und Praktiken basiert, oder fallen darunter auch ganz individuelle Glaubensvorstellungen. Spontan würde ich sagen, dass zu einer Religion auch immer irgendeine Form von religiöser Praxis gehört.

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#3 yiyippeeyippeeyay

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    Interstellargestein

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 13:36

Ob sie heute, wo jeder mit jedem jederzeit reden kann, noch denselben Stellenwert beanspruchen kann? Ich hoffe eigentlich nicht.

Ditto. Bin überzeugter Atheist, mit gelegentlichem ungeplanten Rückfall in den Agnostiker. ;) Aber dein Wort vom "wenig gemeinsamen, aber vielen trennenden Lebensumständen" erinnert mich doch sehr an die Gegenwart (in der 1. Welt, zumindest), in der es eine derartige Explosion von Kommunikationswegen und Leitlinien gibt, dass viele (oft etwas ältere*) Leute eher "abspringen". Vielleicht hat der Kern der meisten gängigen Religionen - es gibt viel Unerklärliches, und nur Einer hat alles in der Hand - ja auch eine virtuelle Attraktor-Auswirkung wie damals die reale "Kirche im Dorf".

(* so in meinem Alter und älter, z.B. :P)

/KB

Yay! SF-Dialog Ende März...
Senator: Und dies ist nun die Epoche der Laser?

Farmer: [..] Die Anzahl der Menschen auf der Erde, die voller Hass/Frustration/Gewalt sind, ist zuletzt furchterregend schnell gewachsen. Dazu kommt die riesige Gefahr, dass das hier in die Hände nur einer Gruppierung oder Nation fällt... (Schulterzucken.) Das hier ist zuviel Macht für eine Person oder Gruppe, in der Hoffnung dass sie vernünftig damit umgehen. Ich durfte nicht warten. Darum hab ich es jetzt in die Welt verstreut und kündige es so breit wie möglich an.

Senator: (erblasst, stockt) Wir werden das nicht überleben.

Farmer: Ich hoffe Sie irren sich, Senator! Ich hatte eben nur eine Sache sicher kapiert - dass wir weniger Chancen dazu morgen haben würden als heute.

(Leiter eines US-Congress-Kommittees vs. Erfinder des effektivsten Handlasers, den es je gab, grob übersetzt aus der 1. KG aus Best of Frank Herbert 1965-1970, im Sphere-Verlag, Sn. 38 & 39, by Herbert sr.)


#4 Lomax

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 14:13

Ich denke mal, da vermischen sich die von dir und die von Simi angesprochenen Komponenten: Natürlich besteht immer ein Bedarf an Sinngebungsmodellen. Ich denke mal, das ist der Punkt - genau genommen: das Bedürfnis -, an dem Religionen beim Individuum ansetzen. Wenn nun mehrere auf diese Weise "geköderte" Individuuen in derselben Religion zusammenkommen, entsteht eine Gemeinschaft, die stabiler ist und auch andere kommunikative und motivationelle Vorteile genießt als vergleichbare Gemeinschaften ohne religiöses Zentrum. Letzteres ist dann der "evolutionäre Selektionsfaktor", der die Entwicklung der Religionen und ihre heutige Stellung in der Gemeinschaft insgesamt erklärt; und der auch zum Tragen kommt, wenn religiöse Zentren zum Kristallisationspunkt urbaner Kultur werden. Der erste Faktor ist ohne Zweifel noch präsent und reicht wohl aus, um die immer noch vorhandene Attraktivität von Religionen oder Religionsersatz auf einzelne Menschen zu erklären. Ob letztere Regel immer noch gilt, wird wohl erst die Zukunft zeigen - wenn ja, dann dürften Religionsgemeinschaften ihren politischen Einfluss dauerhaft behaupten bzw. wieder ausbauen, wenn nein, dann wird Religion eher Privatsache (bleiben). Ich sehe halt durchaus Ansätze dafür, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen von Religion, also der Faktor, der das hier angesprochene Phänomen der Stadtentwicklung befödert hat, inzwischen eher ein historisches Faktum ist und das man heute andere, genauso leistungsfähig Möglichkeiten der Massenorganisation hat. Aber historisch gesehen ist die Kommunikationsgesellschaft ebenso wie rein säkulare Ideologien etwas recht Neues, so dass ich mir da noch keine abschließende Meinung gebildet habe. Ich bin nur so weit, dass ich es nicht ausschließen möchte, dass sich die Verhältnisse inzwischen tatsächlich grundlegend gewandelt haben. Allerdings muss ich einräumen, dass gerade die informationstechnischen Modelle, an denen ich zum ersten Mal mit dem Phänomen konfrontiert wurde, nahe legen, dass die sozialen Vorteile von "Religion" ein sehr niedrigschwelliger Selektionsfaktor sind, der sich nicht so einfach aus dem System tilgen lässt. Denn interessanterweise haben gerade diese Agentenmodelle nahe gelegt, dass eine soziale Abstimmung über "pseudoreligiöse Elemente" eine effizientere Ressourcenausschöpfung ermöglichte als ein nüchterner allgemeiner Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Agenten. Jedenfalls ist es ein spannendes und auch sehr aktuelles Thema, und ich lese immer interessiert, wenn ich irgendwo über Artikel dazu stolpere ;) Gerade auch in den letzten Jahren mit dem angeblichen "Wiederstarken der Religionen" haben es ja eine Menge grundsätzliche Betrachtungen und Erörterungen zum Thema sogar in die Zeitungen geschafft.
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#5 Vincent Voss

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 14:43

Das Zitat shoogars zu Baxters Evolution : "Religion ist für primitive Gesellschaften ein sehr wichtiger Kitt, um die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Erkenntnis (und des eigenen Todes) in den Griff zu kriegen." ließe sich auch so umschreiben: Wissenschaft ist für primitive Gesellschaften ein sehr wichtiger Kitt, um die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Erkenntnis (und des eigenen Todes) in den Griff zu kriegen." Hängt halt nur vom Standpunkt des Betrachters ab... ;) Lieber Gruß

Bearbeitet von Vincent Voss, 25 Februar 2010 - 14:43.


#6 Lomax

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 15:12

Wissenschaft ist für primitive Gesellschaften ein sehr wichtiger Kitt, um die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Erkenntnis (und des eigenen Todes) in den Griff zu kriegen."

Hängt halt nur vom Standpunkt des Betrachters ab... ;)

Nein, eigentlich nicht. Dazu findet ein zu großer Anteil der Wissenschaft viel zu fern von der Masse der Gesellschaft statt, und nur ein kleiner Teil der Wissenschaft befasst sich überhaupt mit Bereichen, die grundsätzliche Fragen der menschlichen Sinngebung berühren. Ich habe auch schon oft festgestellt, dass für manche Wissenschaftler und auch für manche "Wissenschaftsgläubige" die Wissenschaft quasi zum Religionsersatz wird. Aber das hängt wohl mehr von den menschlichen Bedürfnissen dieser einzelnen ab als von der Wissenschaft an sich.
Wissenschaft an sich funktioniert auch ohne grundsätzliche Sinnfrage, und sie erfüllt auch bei rein pragmatischer Abarbeitung von Sachthemen einen Nutzen in der Gesellschaft. Für Religionen hingegen ist die Frage nach dem letzten Sinn und das Vermitteln eines "Sicherheitsgefühls" essentiell und nicht herauszurechnen. Auch wenn die Praxis mitunter anders abläuft, würde ich in dieser grundsätzlich anderen Stellung der Sinnfrage im Gesamtsystem doch einen entscheidenden Unterschied sehen ...

Und gerade im Prinzip der Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis sehe ich auch einen entscheidenden Fortschritt, der durchaus auch eine Abstufung der "Primitivität" erlaubt. Lustigerweise gleicht dieser Unterschied sehr dem Unterschied zwischen Schule und Uni - denn ich erinnere mich an das Zitat eines Professors, dass es "das Problem der Lehrer an der Schule ist, dass sie für jede Frage eine abprüfbare Antwort vermitteln müssen, egal wie blödsinnig sie ist", während man in der universitären Ausbildung auch Unsicherheiten akzeptiert und sogar ausdrücklich lehrt.
Bei genauerer Betrachtung charakterisiert dieses Zitat auch hervorragend den Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft - denn ist es da nicht auch so, dass bei der Religion in erster Linie wichtig ist, dass sie auf die wichtigen Fragen des Menschen eine Antwort gibt, und dass es ziemlich egal ist, wie diese Antwort zustandekommt, solange sie nur ein Bedürfnis erfüllt? Mir jedenfalls ist noch keine Religion begegnet, die ihre zentralen Glaubenssätze dem Prinzip der Falsifizierbarkeit unterwirft, die sie auf überprüfbare Grundlagen stellt und eine ergebnissoffene Methodik höher schätzt als die Antworten, die damit ermittelt werden.
In der Theorie, wohlgemerkt. In der Praxis sieht der Wissenschaftsbetrieb zugegeben oft anders aus ... menschlicher eben :P Aber gerade das der theoretische Unterbau der Wissenschaft weiter entfernt ist von den typisch menschlichen Schwächen würde ich als Zeichen eines höheren Abstraktionsgrades der Wissenschaft erachten und damit auch, rein formal und erst mal ohne zu werten, auch als zumindest eine Stufe weniger primitiv als das Konstruktionsprinzip der Religion, die unmittelbar und unhinterfragt aus bloßer Bedürfnisbefriedigung schöpft.
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#7 yiyippeeyippeeyay

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Geschrieben 25 Februar 2010 - 15:28

OT: Zur etwas verschmitzten Erforschung des Gründens von Religionen, empfehle ich dieses Buch. Mein Fazit: Es ist wirklich nicht schwer. ;)

Eingefügtes Bild


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#8 Pirx

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Geschrieben 26 Februar 2010 - 21:00

Die hier geführte Diskussion um den Sinn und Unsinn bzw. die Aktualität von Religion (wobei die Eigenschaft der Religion als identitätsstiftende Kraft wohl eine Reduktion darstellt) ist gerade zu ein Paradebeispiel für eine eurozentrierte Sicht der Dinge. Ich vermute, daß Religion im Nahen Osten, Afrika, Südamerika und Teilen Osteuropas eine deutlich andere Rolle spielt als im übersättigten Westeuropa. Allein schon der viel gerühmte Zugang zu unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten ist z.B. in Afrika oder in den Slums Südamerikas für viele nicht gegeben.
Gruß

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#9 Lomax

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Geschrieben 26 Februar 2010 - 21:16

Allein schon der viel gerühmte Zugang zu unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten ist z.B. in Afrika oder in den Slums Südamerikas für viele nicht gegeben.

Nicht für die Individuen - aber durchaus für die Gesellschaften an sich. Auch Afrika und Südamerika existieren ja nicht abgekoppelt von der modernen Entwicklung, selbst wenn große Teile der Gesellschaft dort nicht daran teilhaben.
Ich denke mal, wer Trost, einen Lebenssinn sucht oder sonst ein unmittelbarer Bedürfnis befriedigen will, dem hilft ein Handy ohnehin nicht, diese Funktion von Religion zu substituieren. Dass die private Funktion von Religion aktuell bleibt, habe ich zumindest nicht in Frage gestellt.
Aber wer eine schlagkräftige, funktionierende Organisation aufbauen will, der dürfte auch in den den südamerikanischen Slums ab einem gewissen Organisationsgrad keine Probleme haben, auf Computer, Handys etc. zurückzugreifen. Dieser Aspekt von Religion steht also auch in den von dir genannten Regionen in Konkurrenz zu modernen Kommunikationsmöglichkeiten - und spielt da immer noch eine Rolle, aber ist möglicherweise entbehrlich geworden. Wobei man sich fragen muss, ob der Vorteil der Religion bei der Gruppenbildung tatsächlich überhaupt noch ein Selektionsvorteil ist, wenn er (nur noch) bei der Bildung von Parallelgesellschaften und Subkulturen unterhalb der staatlichen Ordnung hilft.
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#10 Pirx

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Geschrieben 26 Februar 2010 - 23:01

Nicht für die Individuen - aber durchaus für die Gesellschaften an sich. Auch Afrika und Südamerika existieren ja nicht abgekoppelt von der modernen Entwicklung, selbst wenn große Teile der Gesellschaft dort nicht daran teilhaben.
Ich denke mal, wer Trost, einen Lebenssinn sucht oder sonst ein unmittelbarer Bedürfnis befriedigen will, dem hilft ein Handy ohnehin nicht, diese Funktion von Religion zu substituieren. Dass die private Funktion von Religion aktuell bleibt, habe ich zumindest nicht in Frage gestellt.
Aber wer eine schlagkräftige, funktionierende Organisation aufbauen will, der dürfte auch in den den südamerikanischen Slums ab einem gewissen Organisationsgrad keine Probleme haben, auf Computer, Handys etc. zurückzugreifen. Dieser Aspekt von Religion steht also auch in den von dir genannten Regionen in Konkurrenz zu modernen Kommunikationsmöglichkeiten - und spielt da immer noch eine Rolle, aber ist möglicherweise entbehrlich geworden. Wobei man sich fragen muss, ob der Vorteil der Religion bei der Gruppenbildung tatsächlich überhaupt noch ein Selektionsvorteil ist, wenn er (nur noch) bei der Bildung von Parallelgesellschaften und Subkulturen unterhalb der staatlichen Ordnung hilft.


Entbehrlich? Parallelgesellschaft und Subkulturen? Bin mir da nicht so sicher. Vielleicht im Bezug auf das Christentum (wobei ich mir auch hier nicht so sicher wäre, s.u.) und auf den westlichen Kulturkreis. Wie sieht es mit der Islamische Republik Iran aus? Oder den Taliban? Hier wird doch eindeutig Religion (vielleicht auch mehr als Institution verstanden) als gemeinschaftsstiftendes Element instrumentalisiert. Generell scheinen islamische Gesellschaften Religion im geringerem Maße aus dem staatlichen Leben hinaus zu drängen, als dies in anderen Kulturen der Fall ist. Auch in dem Konflikt zwischen Irland und Großbritannien spielen konfessionelle Unterschiede (sei es als Klammer oder Abgrenzung) eine Rolle.
Gruß

Pirx
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#11 Lomax

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Geschrieben 26 Februar 2010 - 23:48

Entbehrlich? Parallelgesellschaft und Subkulturen? Bin mir da nicht so sicher. Vielleicht im Bezug auf das Christentum (wobei ich mir auch hier nicht so sicher wäre, s.u.) und auf den westlichen Kulturkreis. Wie sieht es mit der Islamische Republik Iran aus? Oder den Taliban? Hier wird doch eindeutig Religion (vielleicht auch mehr als Institution verstanden) als gemeinschaftsstiftendes Element instrumentalisiert.

Das so etwas stattfindet, stand ja nicht zur Debatte. Entzündet hat sich die Debatte ja an der Feststellung, dass eine entsprechende Instrumentalisierung von Religion in der Geschichte eine bedeutsame Rolle spielte und den so strukturierten Gemeinschaften handfeste Vorteile verschaffte.
Die Frage ist jetzt eher, ob dieser Mechanismus noch immer wirksam ist, sprich: Es geht eigentlich weniger darum, ob es noch vereinzelt Gesellschaften gibt, in denen diese Strukturen mehr oder minder genutzt werden, sondern darum, ob diese Strukturen wirklich noch gebraucht werden oder ob nicht alle gesellschaftlichen Funktionen von Religion inzwischen durch andere Strukturen genauso gut erbracht werden. Haben die Islamische Republik Islam bzw. andere religiös geprägte Gesellschaften im Konkurrenzkampf der Kulturen tatsächlich noch Vorteile? Oder sind sie gleichwertig ersetzbar oder sogar Auslaufmodelle der kulturellen Evolution?
Wie gesagt, ich denke mal, das wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Im Moment scheinen säkulare Systeme oder ideologische "politische Ersatzreligionen" in Verbindung mit modernen Kommunikationsmitteln den Job effizienter zu erfüllen. Aber das mag natürlich nur eine kurzfristige Erscheinung sein. Im Gegensatz zu Religionen, die ihre Beständigkeit und Krisenfestigkeit bewiesen haben, müssen moderne politische Strukturen diesen Beweis erst noch erbringen.
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#12 Vincent Voss

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Geschrieben 27 Februar 2010 - 20:43

Hallo, ehrlich gesagt wird mir bei dem Begriff "kulturelle Evolution" ein wenig übel, wenn er denn so leichtfertig mit anderen Begriffen wie "primitive Kulturen" genannt wird. Wer bestimmt denn, welche Kulturen "primitiv" oder "unterentwickelt" sind? Und was meint es in deinem Sinne? Kulturen, die der Religion eine größere Sinnstiftung zusprechen als der Wissenschaft (wo die Pardigmenwechsel der Wissenschaft in ihrer Historie auch große Kluftenund gar Standpunktwechsel mitgemacht haben)? Lieber Gruß

#13 Lomax

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Geschrieben 27 Februar 2010 - 22:18

ehrlich gesagt wird mir bei dem Begriff "kulturelle Evolution" ein wenig übel, wenn er denn so leichtfertig mit anderen Begriffen wie "primitive Kulturen" genannt wird. Wer bestimmt denn, welche Kulturen "primitiv" oder "unterentwickelt" sind? Und was meint es in deinem Sinne?

Nun, ich habe den Begriff nicht in die Diskussion eingebracht und habe, als ich ihn aufgegriffen habe, meiner Erinnerung nach auch betont, dass ich ihn nicht wertend, sondern strikt formalistisch verstehen möchte. Alles andere ergibt wenig Sinn, weil man sonst nur noch ideologisch argumentiert.
Aber tatsächlich kann man "primitiv" auch ganz nüchtern im Sinne einer "größeren Komplexität der Organisation" oder im Sinne einer "höheren Abstraktion" verwenden. Und Komplexität und Abstraktion lassen sich durchaus analysieren und quantifizieren, ohne dass damit eine Wertung im Sinne von "besser" verbunden ist - ich denke, die Geschichte der Bürokratie lehrt hinreichend, dass eine höhere Komplexität nicht notwendigerweise "besser" ist.
Eine Gesellschaft kann vermutlich auch einen Großteil ihrer Ressourcen in der Verwaltung verbrennen und sich "zu Tode regeln". Mit tief gestaffelten Organisationsstrukturen, unabhängigen Institutionen und abstrakten "Ämtern" wäre eine solche paralysierte Gesellschaft allerdings immer noch "weniger primitiv" als eine funktionierende sippenbasierte Kultur. Vorausgesetzt, man entkleidet "primitiv" seiner emotionalisierenden Konnotationen und benutzt das Wort schlicht als Gegensatz zu "komplex".

P.S.: "Evolution" definiert im übrigen auch keine wertende Abstufung im Sinne einer "Entwicklung zum immer und unter allen Umständen besseren", sondern misst sich schlicht am Grad der Anpassung an die Umstände des Lebensraums. Das impliziert weder eine "moralische Überlegenheit" (was auch immer das sein soll, da die Moral ja nur ein Derivat von Kultur und angeborenem Sozialverhalten ist) noch auch nur, dass eine derzeit "überlegene Organisationsform" sich nicht bei einer Veränderung der Verhältnisse wieder einer scheinbar schon überholten Organisationsform als unterlegen erweisen kann.
Wäre es anders, wäre die Frage, ob religiöse Gesellschaftsstrukturen heutzutage noch Vorteile gegenüber säkularen Strukturen haben, auch bedeutend leichter zu beantworten :)

Bearbeitet von Lomax, 27 Februar 2010 - 22:31.

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#14 molosovsky

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 10:11

Ich rotzte mal so Ansichten hin. Wissenschaft als gesellschaftlicher Kitt. Halt ich für ne überspanntte Betrachtung. Sooooo gebildet sind nun mal noch nicht genug, damit das wirklich sein könnte. Wissenschaft und ihre Früchte bestimmen zwar in bestimmten Bereiche den Kurs des Zivilisationsfortschritts, doch die Bevölkerung(en) verstehen zu wenig und beteiligen sich selbst zu wenig an der Welt der Wissenschaft, um dieser eine Kitt-Funktion zuzusprechen. Ich wundere mich, dass hier niemand an Finanzwelt, Handel, Konsum denkt. Das ist doch zumindest in den entsprechend komfortablen Zonen der Welt der Kitt der Gesellschaft. (Organisierte) Religion ist ein mich mißtrauisch stimmender Überlebender der Vergangenheit. Grüße Alex / molo

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#15 Vincent Voss

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 10:21

Hallo, wenn ich von einem Konkurrenzkamp der Kulturen spreche, gehe ich nicht nur implizit sondern ganz konkret von einem Wertesystem aus. Und in der Argumentation meint dann primitiv selten ganz nüchtern geringer komplex, sondern unterlegen. Häufig etablieren sich sich solche Konzepte tatsächlich eher in westlichen Gesellschaften. Nur darf man fragen, ob ein Sytem, welches auf Wissenschaft aufbaut und ein Potential erschaffen hat, welches die Weltbevölkerung x-mal auslöschen kann, welches mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen so verschwenderisch umgeht, dass die kommenden zwei Generationen vor dem Nichts stehen, welches keinen Wert auf Technikfolgeabschätzungen legt und damit bedrohliche Risiken für sich und vor allem für andere eingeht, welches einem Bild der hegemonialen Männlichkeit nacheifert, welches gerade das ganze Wirtschaftssystem an die Wand gefahren hat und dabei ist, es wieder zu tun, wirklich anderen Systemen, die ihre Sinnstiftung auf Religion ausgelegt haben, überlegen ist. Ich halte sowohl religiöse, wie auch wissenschaftliche Systeme für zirkulär und das birgt eine Gefahr, weil sie jeweils eine objektive Wahrheit für sich und andere koexistiernde Systeme beanspruchen und vor allem beanspruchen müssen. Vielleicht müssten sie es nicht, aber so werden sie überwiegend praktiziert. So, jetzt spiel ich Fußball. Die einzig wahre Religion. :) Lieber Gruß

Bearbeitet von Vincent Voss, 28 Februar 2010 - 10:22.


#16 Lomax

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 13:21

Wissenschaft als gesellschaftlicher Kitt.

Nun ja, Religionen als "Kitt" der Gesellschaft war ja nur ein einzelnes zugespitztes Zitat in der Diskussion, das den differenzierteren Ausführungen nicht gerecht wurde - genau wie der etwas künstliche Gegensatz der "Wissenschaft" als Religionsersatz.
Genau genommen ging es ja eher darum, dass Religion als identitätsstiftendes Moment einer Gemeinschaft dient, dass sie geeignet ist, Ressourcen zu mobilisieren, größere Gruppen auf gemeinsame Ziele einzuschwören und Botschaften innerhalb dieser Gruppe zu befördern. All das tut "Wissenschaft" natürlich nicht - wohl aber kann man sich fragen, ob moderne Organisationsformen, Kommunikationsformen und säkulare Ideologien nicht diesen kulturellen Kernnutzen von Religion heutzutage genauso gut erbringen können.
"Wissenschaft" bezog sich, soweit ich das sehen kann, eher auf eine Konkurrenz für den individuellen Nutzen von Religionen als sinnstiftend und welterklärend, der mit dem kulturellen Nutzen ja zunächst mal wenig zu tun hat. Und da die Diskussion von der "Religion als Zivilisationsmotor" ausging, denke ich, sollte man sich auch auf den gesellschaftlichen Aspekt konzentrieren und nicht sämtliche Auswirkungen von Religion nur im Paket behandeln. Ich denke mal, genau wie Handy und Internet tragen auch Finanzwelt und Handel wenig zur Beantwortung tiefschürfender Fragen des Menschseins bei und stehen in dieser Hinsicht nicht in Konkurrenz zur Religion - die Wissenschaft aber durchaus. Wenn man sich mit Organisationsstrukturen befasst, sieht es genau umgekehrt aus.

wenn ich von einem Konkurrenzkamp der Kulturen spreche, gehe ich nicht nur implizit sondern ganz konkret von einem Wertesystem aus. Und in der Argumentation meint dann primitiv selten ganz nüchtern geringer komplex, sondern unterlegen.

Wertesysteme sind mir da ehrlich gesagt viel zu beliebig, um als Kriterium zu taugen. Wertesysteme reichen genau so weit wie die Stärke der Kulturen, die sie tragen - und selbst wenn man von einer "Wertigkeit der Wertesysteme" ausgeht, muss ich bei historischer Betrachtung doch feststellen, dass da nach meinem Empfinden ein Fortschritt stattgefunden hat. Was, vielleicht, schlichtweg daran liegt, dass unser Wertesystem am Ende dieser Entwicklung steht, demenstprechend aktuell ist und mir nur darum als "besser" erscheint, weil ich es zufällig teile. Vielleicht ist es ja nur meine persönliche Illusion, dass ich Menschenopfer, Sklaverei, Sippenhaft, Fremdenhass und all die anderen Werte, die in den letzten Jahrtausenden nicht nur - wie heute - stattfanden, sondern sogar offen gepflegte moralische Richtlinien waren, als weniger "gut" entwickelt ansehe als den ethischen Kanon, der sich heute herausgebildet hat. :D
Und, ja, ich halte auch nichts von einem kulturellen Egalitarismus, der künstlich versucht, alle Kulturen gleich zu "werten". Ich halte es für gänzlich weltfremd, eine kulturelle Entwicklung abzustreiten - selbst heutige steinzeitliche Kulturen haben eine Jahrtausendelange kulturelle Entwicklung hinter sich und sind definitiv nicht mehr auf demselben Stand wie unsere Vorfahren, selbst wenn sie nicht denselben technologischen Weg eingeschlagen haben wie wir. Und ich kann auch keine Kultur als gleichwertig erachten, die nur dadurch überleben kann, dass ihre Nachbarn sich freundlicherweise einigen, diese Kultur zu schützen und in Ruhe zu lassen und nach Möglichkeit eine Glasglocke darüber zu erichten. Sorry, aber Kulturen, die von anderen Kulturen unter Artenschutz gestellt werden müssen, sind eindeutig nicht auf einem gleichwertigen Stand, und es kann kein erstrebenswertes Ziel kultureller Entwicklung sein, von der Gnade seiner stärkeren Zeitgenossen abhängig zu sein. Weder für einzelne Menschen noch für Kulturen, in denen sie leben.
Ich würde also durchaus Begriffe wie "unterlegen" gebrauchen - wenn auch nicht im Zusammenhang mit "Primitivität", sehr wohl aber im Zusammenhang mit "kultureller Evolution". Und diese "Unterlegenheit" würde ich - aus oben genannter Problematik heraus - auch nicht moralisch definieren wollen, sondern strikt materiell. Unterlegene Kulturen können weniger Ressourcen mobilisieren als ihre Konkurrenten, und sie entwickeln auch weniger "Strahlkraft" in dem Sinne, dass sie andere Kulturen auch ohne unmittelbare Einwirkung durch ihr bloßes Vorbild beeinflussen. Wie bei jeder Evolution ist das natürlich keine Entwicklung mit einem Endpunkt, sondern immer nur eine Momentaufnahme - die unterlegene Kultur ist halt diejenige, die unter den gegenwärtigen Umständen ins Hintertreffen gerät.
Aber die Zeit geht auch selten rückwärts, und es kommt kaum vor, dass eine einmal unterlegene Kultur sich plötzlich als stärker erweist - sehr wohl kann es aber sein, dass eine zeitweise materiell unterlegene Kultur sich in ihrer Weiterentwicklung als zukunftsträchtiger erweist, während eine zeitweise überlegene Kultur in eine Sackgasse gerät. Ich würde also sagen, das System ist ständig im Fluss, und das ist auch der Hintergrund, wo ich einräumen würde, dass Religion als kulturelle Organisationsform noch keineswegs vom Tisch ist. Aber vor diesem Hintergrund und aus reinem Gutmenschentum die Augen selbst vor temporären Unterschieden und Unterlegenheiten zu verschließen und sich in unreflektiertem Egalismus zu verlieren, oder in ach so modischer Zivilisationskritik - da fehlt mir, ehrlich gesagt, das empirische Element, mit dem man solche Gedanken jenseits romantischer Empfindungen erden kann.

Nur darf man fragen, ob ein Sytem, welches auf Wissenschaft aufbaut und ein Potential erschaffen hat, welches die Weltbevölkerung x-mal auslöschen kann, welches mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen so verschwenderisch umgeht, dass die kommenden zwei Generationen vor dem Nichts stehen ...

Ehrlich gesagt, das ist auch eine Argumentationslinie, mit der ich so gar nichts anfangen kann. Es ist wohl das, was der Engländer als "angsty" bezeichnet. Denn, nüchtern betrachtet, geht die Menschheit ohnehin auf ihren Untergang zu, ob sie sich nun selbst in die Luft bläst oder so lange ressourcenschonend auf ihrer Scholle hockt und die Generationen dahintröpfeln lässt, bis die Umweltbedingungen sich von selbst so ändern, dass das nächste Massensterben einsetzt, dem die Menschheit mit ihrem dann erreichten bescheidenen Ressourcenaufkommen nicht gewachsen ist.
Ob das, was wir heute als Missstände wahrnehmen tatsächlich vermeidbar war oder eine notwendige Begleiterscheinung der Entwicklung, weil der Mensch sich halt nicht anders organisieren kann, wird man erst im Nachhinein wissen. Dazusitzen, die Ressourcen langsamer zu verbrennen und irgendwann unterzugehen, weil man nie den über die Existenzerhaltung notwendigen Mehrwert produziert hat, der nötig ist, um neue Resssourcen und Überlebensmöglichkeiten zu erschließen, wäre jedenfalls auch keine Alternative.

Mit Religion hat das, zugegeben, wenig zu tun. All das funktioniert in religiösen Strukturen so gut wie in säkularen - auch die islamische Republik Iran bastelt ja an ihrer Bombe ;).
Zum Thema "die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft" trägt der Themenkomplex nur dann bei, wenn man Religion tatsächlich vor allem dadurch definieren will, dass sie sich gegen die Wissenschaft aufstellen will, gegen empirische Wahrheiten und im Dienste einer rein idealistischen, weltanschaulichen Ausrichtung. In dem Falle würde ich Religion dann tatsächlich als eher schädlichen Faktor ansehen. Denn als Hort, um Wunschvorstellungen durchzusetzen und die materiellen Gegebenheiten dabei möglichst zu übersehen, kann Religion durchaus auch die wertigen Ziele, die sie sich auf diese Weise zu eigen macht, diskreditieren und ihnen letztendlich schaden. Da hat zuletzt ja der real existierende Sozialismus gezeigt, wie sehr man auch möglicherweise berücksichtigenswerte Erwägungen vor die Wand fahren kann, wenn man sie nur fest genug in einen dysfunktionalen Rahmen einbaut und damit stur geradeaus fährt, ohne auf die Straße zu achten ...
Die Frage wäre: Sind Religionen besonders anfällig für derartige ideologische Amokfahrten? Schwärmerische Bewegungen aller Art kennt die Geschichte ja genug. Ich würde sagen, in der Regel wurden sie auch bei religiös orientierten Gesellschaften schnell genug ausselektiert, aber bei manchen religiös motivierten Exzessen bin ich mir nicht sicher, inwiefern da solche Dinge eine Rolle spielen und inwiefern es sich tatsächlich um potenziell im gegebenen zeitlichen Rahmen sinnvolle, wiewohl unschöne Kraftanstrengungen handelt. :)
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)

#17 Vincent Voss

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 14:29

Hallo, dieser Argumentation zu folgen, bedeutet z.B. universelle Menschenrechte, die "unterentwickelte" Gesellschaften schützen wollen, zu negieren. Dementsprechend wären viele Konflikte, in denen eine zivilisierte, höher entwickelte Gesellschaft in andere regional angrenzende Länder hinein expandiert, der kulturellen Evolution geschuldet. Oder kulturelle Assimilierung. Oder Ausbeutung. Außerdem liegt m.E. nach der Trugschluß genau dort, dass Kulturträger häufig davon ausgehen, ihr soziales, kulturelles System sei aufgrund ihrer Errungenschaften nun mal die derzeitige Spitze der kulturellen Evolution. Der Begriff kulturelle "Strahlkraft" hat für mich stammtischniveau und ist gefährlich. Lieber Gruß

#18 Lomax

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 15:31

dieser Argumentation zu folgen, bedeutet z.B. universelle Menschenrechte, die "unterentwickelte" Gesellschaften schützen wollen, zu negieren.

Nein, eigentlich nicht. Diese Menschenrechte und der Schutz unterentwickelter Kulturen ist nämlich nicht naturgegeben, sondern ein Errungenschaft unserer gegenwärtigen Kultur und Kulturstufe - mithin ein Podukt einer kulturellen Weiterentwicklung. Wenn man eine qualitative Weiterentwicklung in Frage zu stellen würde, "negiert" man also viel eher den Schutz unterentwickelter Kulturen und die Menschenrechte - weil man in dem Falle ja in Abrede stellt, dass derartige Zeiterscheinungen einen qualitativen Wert haben.

Außerdem liegt m.E. nach der Trugschluß genau dort, dass Kulturträger häufig davon ausgehen, ihr soziales, kulturelles System sei aufgrund ihrer Errungenschaften nun mal die derzeitige Spitze der kulturellen Evolution.

Hm, wenn ich mich in der Geschichte so umschaue, ist genau diese Schlussfolgerung - dass nämlich das eigene System das bestmögliche ist - ein Paradigma, das so gut wie allen Kulturen inne wohnt. Selbst die simpelst strukturierten Gesellschaften geben sich gerne dieser Illusion hin und finden genug Gründe, um andere Lebensformen abzuwerten. Eine angenommene, nur "gefühlte" Überlegenheit ist also kein wie auch immer distinktives Merkmal einer Kultur - die materielle Überlegenheit hingegen lässt sich sehr wohl auf die Probe stellen, messen und in ihren Auswirkungen erkennen.
Ich denke also, es gibt durchaus eine tatsächliche "Überlegenheit", ganz nüchtern, unmoralisch und mechanistisch, die getrennt existiert von jeglichem "Überlegenheitsgefühl" und die sich allein daran messen lässt, welche Kultur am Ende überlebt, sich weiterentwickelt und nachfolgende Kulturen am stärksten beeinflusst.

Der Begriff kulturelle "Strahlkraft" hat für mich stammtischniveau und ist gefährlich.

Wahrheiten mögen gefährlich sein, dennoch werden sie nicht harmloser, wenn man versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen :) Kulturen beeinflussen sich immer gegenseitig, und zwar durchaus in beide Richtungen. Dennoch kann man in der Geschichte dabei stets auch eine gewisse Assymetrie feststellen, und "Strahlkraft" ist als Begriff für die Kultur, die die dominanteren Einflüsse hat auf andere Kulturen, mit denen sie in Berührung kommt, so gut wie jeder andere.
Ob man es nun Strahlkraft nennt oder nicht - es ändert nichts an der Tatsache, dass beispielsweise das Rechtssystem des römischen Reiches auf die germanischen Kulturen selbst dann noch einen so großen Einfluss hatte, dass es zu einem bedeutenden Teil übernommen wurde, als die Germanen schon materiell die Herrschaft errungen hatten und niemand sie dazu zwingen konnte - während umgekehrt die römische Kultur garantiert niemals auf den Gedanken gekommen wäre, das germanische Rechtssystem ohne Not zu adaptieren. Die ausdifferenzierte römische Kultur bot nun mal mehr, an dem sich die Germanen gerne auch freiwillig bedient haben, als umgekehrt - genau wie es bei vielen anderen vergleichbaren Begegnungen von (und sei es nur temporär) höher entwickelten Kulturen mit geringer entwickelten der Fall ist.
Und die Kulturdrift ist in vielerlei Hinsicht auch heute noch recht einseitig. Es mag am Ende nicht die westliche Kultur sein, die sich durchsetzt, und der Schein mag auch trügen, dass die ganze Welt im Zuge der Globalisierung nur darauf wartet, zu "verwestlichen". Manch andere Kultur mag sich am Ende als stark genug erweisen, um sich abzugrenzen - aber manche Kultur eben auch nicht. Mitunter reicht der bloße Kontakt zu einer höher entwickelten Kultur schon aus, um die Lebensweise traditioneller Kulturen zu verändern. Ob man nun die Begriffe, die das beschreiben, als gefährlich ansieht, oder die Entwicklungen an sich, hängt wohl in erster Linie davon ab, ob man glaubt durch die Wortwahl am Stammtisch die Realität verändern zu können :D
Die Tatsache, dass mehr Afrikaner heute westliche T-Shirts tragen als umgekehrt Europäer in afrikanischer Tracht umherlaufen ist wie vieles andere ein beobachtbares Symptom für den assymetrischen Austausch. Selbst wenn es dir nicht gefällt - was wird besser daran, wenn man es nicht benennt?
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#19 Vincent Voss

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 18:19

Hallo, Ich bin auch ein Freund davon,Phänomene beim Namen zu nennen, nur verwende ich dabei einen anderen Duktus. Außerdem sind unsere Haltungen möglicherweise verschieden. Ich unterscheide Kulturen in mächtige und weniger mächtige Kulturen. Und ich sehe es auch so, dass kulturelle Manifestationen verschwinden, sich austauschen, übernommen werden usw. Ich sehe es aber nicht als zwingende Triebfeder einer Entwicklung an, dass Kulturen, die nebeneinander koexistieren sich zwangsläufig ab- und durchsetzen müssen. Das würde bedeuten, dass jeder Kultur ein aggressives Potential innewohnen muss. Durch die Diskussion um Huntington´s Clash of Civilizations gewinnt die Meinung Oberhand, ein Konflikt zwischen einigen speziellen Kulturen sei eben unumgänglich, weil sie sich messen müssten. Diese Argumentation lese ich ein wenig bei dir raus. Ich weiß aber nicht, ob ich da richtig liege. Meiner Meinung nach ist der zentrale Begriff, der Machtbegriff. Macht sollte an Verantwortung gekoppelt sein, doch nehme ich eine stärkere Entkopplung wahr. Macht wird zu einem alleinstehenden Kriterium des Fortbestehens ohne Pflichten, Verantwortung etc. Macht wird zunehmend an die Begriffe Fortschritt, Wissenschaft, Technik, und Wirtschaft gekoppelt und daraus entwickelt sich ein allgemeines und subjektives Überlegenheitsgefühl gegenüber dem "Fremden", welches scheinbar a priorí wirkt. In Eile und mit liebem Gruß

#20 molosovsky

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Geschrieben 28 Februar 2010 - 18:22

Ich kann mal einwerfen, wie ich das, was Religionen in der Vergangenheit (nenn ich mal: in klassischen oder traditionellen oder vormodernen Gesellschaften) geleistet haben. †¢ Identitäts-Management: Mittels Geschichtenerzählen, Mythen. Der Unterhaltungsaspekt ist dabei nicht zu unterschätzen (Organisierte Religion ist immer auch Show Buissness). †¢ Generationsbergreifende Organistaion: ›Re-legio‹ = ›Wieder-Lesen‹, ›Sorgfalt‹. Siehe das lange Zeit bestehende exklusive Ausbildungsrecht in Sachen Schrift und Verwaltung und ›Wissenschaft‹, siehe Tempelschätze usw. †¢ Spirituelle Übungssysteme pflegen: Zum Kanalisieren/Abreagieren starker Regungen. †¢ Kollektive psychische und symbolische Abwehrkräfte in Schuss halten: Siehe Herausforderungen durch Tod, Unglück, Leid usw. Ich stimme zu, dass (die klassischen) Religionen auch heute noch eine ungemein starken Zauber ausüben, weil die geschilderten Aufgaben von ihnen schon lange geleistet werden und die einzelnen Managements-Felder zu einem (auch ästhetisch) beeindruckenden Gesamtkunstwerk verschmolzen sind. †” Dem steht als Makel allerdings der (menschlich allzumenschliche) Schwachsinn gegenüber, der sich ebenfalls typischerweise über lange Zeit (sozusagen als Systemverunreinigung) in den Religionen angehäuft hat. Aber ich sehe eigentlich nicht, dass die modernen Disziplinen den Religionen an sich hinterherhinken. Einzig sehe ich einen Rückstand an historischer Bausubstanz und bei jenem Nimbus, der dem Alten und Tradierten eigenen ist. Grüße Alex / molo

Bearbeitet von molosovsky, 01 Mrz 2010 - 00:34.

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#21 Lomax

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 01:31

Außerdem sind unsere Haltungen möglicherweise verschieden.

Ich habe das Gefühl, in manchen Dingen liegen wir sachlich nicht so weit auseinander und es läuft eher auf eine Diskussion um Begriffe hinaus als auf eine Diskussion um Inhalte. Als grundlegenden Unterschied zwischen unseren Sichtweisen würde ich im Wesentlichen festhalten, dass ich ethische und ideelle Aspekte grundsätzlich von materiellen Gegebenheiten trennen würde und erstere weder gleichberechtigt noch gar übergeordnet zum Faktischen anerkenne, sondern vielmehr nur als aus materiellen Vorgaben abgeleitete Zeiterscheinungen.
Ich denke also, unsere Haltung läuft dann auseinander, wenn du aus den ethischen Erwägungen unserer Kultur Verpflichtungen für die zeitüberspannende Entwicklung aller Kulturen ableiten möchtest. Die Perspektive mag ich lieber außen vor halten, weil ein ethischer Blick in die Geschichte nach meinem Empfinden nirgendwo hinführt.

Ich unterscheide Kulturen in mächtige und weniger mächtige Kulturen.

Ich habe ein leichtes Problem mit der Vorstellung von "mächtigen" Kulturen, weil Macht eigentlich schon zu konkret ist für Kulturen, die ja eher schon wieder eine Abstraktion konkreter Gesellschaften sind. Ein Staat kann ein gewisses Maß an Macht haben - aber bei einer Kultur würde ich eher "Überlegenheit" für den angemessen abstrakten Ausdruck erachten, auch wenn ich darunter wohl nicht mehr verstehe als du mit der "Macht" ausdrücken willst. Eine Abstufung nach rein materiellen Gesichtspunkten ohne ethische Komponente.

Ich sehe es aber nicht als zwingende Triebfeder einer Entwicklung an, dass Kulturen, die nebeneinander koexistieren sich zwangsläufig ab- und durchsetzen müssen.

Ich denke, es greift zu kurz, sich eine bestehende Konkurrenzsituation als bloße "Auseinandersetzung" vorzustellen. Konkret können kulturelle Einheiten durchaus in unterschiedlichster Form koexistieren, in Partnerschaft, Symbiose, Abhängigkeit ebenso wie in direkter Konfrontation. Nur: eine Konkurrenzsituation entsteht in jedem dieser Fälle, und zwar neben der Konkurrenz um Ressourcen auch eine "ideologische" Konkurrenz um die Übertragung kulturtragender Meme. Auch in einer partnerschaftlichen Koexistenz von Kulturen mag am Ende eine den kürzeren ziehen, indem zukünftige Verschmelzungen und Weiterentwicklungen der verbündeten Kulturen stärker von der einen Kultur bestimmt werden und die charakteristischen Züge der anderen sich verlieren. Auch das ist ein Wettbewerb, und ich bezweifle, dass jemals Kulturen ohne einen solchen Wettbewerb koexistieren können, auch wenn nicht zwangsläufig Aggressivität spürbar sein muss.

Das würde bedeuten, dass jeder Kultur ein aggressives Potential innewohnen muss.

... und dennoch, auch wenn nicht jede einzelne Koexistenz von Kulturen in jedem Einzelfall und in jedem Stadium ihrer Existenz aggressiv verlaufen muss, fällt es mir schwer, eine grundsätzliche Aggression in jeder Kultur und Aggression als positives Selektionskriterien der kulturellen Entwicklung auszuschließen. Denn gerade als Althistoriker fällt mir ganz extrem auf, dass jede heutzutage "mächtige" (nach deiner Wortwahl), oder auch "überlegene" oder "dominante" Kultur an den Wurzeln ihres Aufstiegs aus einer dezidierten Kriegerkultur hervorgegangen ist.
Das müsste nicht zwangsläufig so sein, denn in meinem Studium sind mir durchaus Kulturen begegnet, die einen anderen, friedlicheren Ethos pflegten und zumindest nach dem Stand der historischen Forschung als nicht-kriegerische Völker galten. Es ist also nicht so, dass jede heute dominante Kultur zwangsläufig aus einer Kriegerkultur hervorgegangen ist, weil irgendwann alle Kulturen Kriegerkulturen waren - es ist vielmehr so, dass alle Kulturen, die irgendwann anders waren, im Laufe der Zeit den Kürzeren zogen und in der Bedeutungslosigkeit versanken.
Diese Beobachtung gibt mir durchaus zu denken und zu der Überlegung Anlass, ob es nicht letztendlich doch so ist - obwohl nicht jede Begegnung von Kulturen aggressiv verlaufen muss -, dass sich nur Kulturen mit einem gerüttelten Maß an Aggression und Konfliktbereitschaft in der kulturellen Entwicklung durchsetzen. Und es spricht auch dafür, dass im Laufe der "kulturellen Evolution" durchaus ein gehöriges "aggressives Potenzial" in jede derzeit bedeutsame Kultur hineingezüchtet wurde.

Meiner Meinung nach ist der zentrale Begriff, der Machtbegriff. Macht sollte an Verantwortung gekoppelt sein, doch nehme ich eine stärkere Entkopplung wahr.

Nun, in diesem "soll" sehe ich eher ein "wäre schön" als eine wirksame Kausalität. Ich sehe auch keine Entwicklung im Sinne einer zunehmenden Entkoppelung - denn wenn ich mir die mächtigen Völker der Geschichte anschaue, habe ich nicht das Gefühl, dass jemals das Gefühl einer ethischen Verantwortung besonders stark mit der ausgeübten Macht verbunden war. Ganz im Gegenteil scheint das eher ein Gedanke zu sein, den wir überhaupt erst der heutigen Zeit verdanken. Wir nehmen es als Defizit wahr, während zu früheren Zeiten Völker für den reinen Machterhalt und Machtausweitung als Selbstzweck gekämpft haben, im unreflektierten Bewusstsein ihrer eigenen auch moralischen Überlegenheit. Dass wir heute überhaupt denken, Macht sollte auch im Miteinander der Kulturen an Verantwortung gekoppelt sein, dass wir heute überhaupt ein Defizit wahrnehmen, wenn es nicht so ist, ist für mich bereits ein ethischer Fortschritt - kein Zeichen dafür, dass sich da etwas verschlechtern würde.
Was du heute beklagst, gab es früher genauso - es hat nur niemanden gestört. Je weiter man zurückgeht, desto weniger.
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#22 Lomax

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 02:05

Ich kann mal einwerfen, wie ich das, was Religionen in der Vergangenheit ... geleistet haben.

Dem würde ich gerne noch ein paar Punkte hinzufügen:

†¢ Stabilisierung von Gesellschaften: Dadurch, dass Regeln von den materiellen Grundlagen ihrer Formulierung abgekoppelt und als "Moral" nicht mehr hinterfragt werden, bleiben sie über lange Zeit erhalten und stabil (beispielsweise Eherecht, Ernährungsregeln, etc.) - was es den Gesellschaften erlaubt, sich nicht ständig neu definieren zu müssen sondern vollzogene Entwicklungen "zu den Akten" zu legen und auf Basis eines erreichten Konsens die Kräfte der Gemeinschaft sinnvoller zu nutzen. Dieser Effekt wird heute oft als unangenehm empfunden, sorgt er doch für all die antiquiert wirkenden Verhaltensvorschriften, mit denen Religionen heute gerne anecken - dennoch darf man nicht vergessen, dass dieser stabilisierende Effekt auf ein kulturelles Regelwerk in Zeiten, wo die ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft langfristig stabil blieben, durchaus ein Vorteil war.
†¢ Weitergabe kultureller Strukturen: Dabei denke ich beispielsweise an das Christentum, das letztendlich maßgebliche kulturelle Errungenschaften des Römerreichs nach dem Zusammenbruch erhalten und an den gesamten germanischen Kulturkreis weitervermittelt hat - eine Leistung in der Kulturdrift, die die römische Gesellschaft auf politisch-materiellem Wege niemals in diesem Umfang erreicht hat. Fremde kulturelle Strukturen scheinen sich unter dem Mantel einer Religion leichter verbreiten zu lassen als auf direktem Wege.
†¢ "Klüngel": Dabei denke ich an einen Aufsatz, den ich letztens erst gelesen habe und in dem die Theorie vertreten wurde, dass Religionen als Gemeinschaften gerade durch das Abverlangen eines sinnlosen Ressourceneinsatzes für Kult- und Glaubenshandlungen ohne unmittelbaren Gewinn ihre Mitglieder selektieren und damit verhindern, dass Schmarotzer und unzuverlässige Mitglieder, die sich mit der Gemeinschaft nicht vollständig identifizieren, an den Leistungen dieser Gemeinschaft teilhaben können. Durch den religiösen Überbau und den Aufwand, der dem Mitglied dadurch für die Teilhabe abverlangt wird, wird die Bindung des Mitglieds an die Gruppe gestärkt und geprüft und sichergestellt, dass nur diejenigen Förderung durch Gruppenleistung erfahren, die diese Leistung auch zurückgeben.
Den Gedankengang fand ich durchaus erwägenswert.

Aber ich sehe eigentlich nicht, dass die modernen Disziplinen den Religionen an sich hinterherhinken. Einzig sehe ich einen Rückstand an historischer Bausubstanz und bei jenem Nimbus, der dem Alten und Tradierten eigenen ist.

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wie in meinem vorigen Posting gesagt - ich kann nicht anders als die Entwicklung von Kulturen und kulturellen Einflüssen aus der Perspektive von Jahrtausenden zu betrachten. Eine studienbedingte geistige Schädigung, fürchte ich :lol: Aber bei allem, was uns heute selbstverständlich erscheint, trete ich automatisch einen Schritt zurück, in die Warte der Römer, Griechen, Ägypter und einer fiktiven Zukunft, für die unsere Gegenwart genauso fern erscheint wie uns diese letzten Kulturen, und ich kann nicht anders als zu versuchen, mir alle Eindrücke unserer Gegenwart all jener Unmittelbarkeit entkleidet vorzustellen, die sie für mich anders erscheinen lässt als historische Epochen.
Und wenn ich das tue, schrumpft die ganze Säkularisation und das industrielle Zeitalter, die ganze Moderne mitsamt all ihrer Werte und Ideale zu einer bloßen Episode zusammen, neben der die Religionen gerade wegen der "historischen Bausubstanz" umso beeindruckender wirken. Ich sehe dann nicht nur historischen Ballast, sondern vor allem jene Wechselfälle der Geschichte, jene gewaltigen Umwälzungen, gegen die sich Religionen bewährt haben - und ich muss feststellen, dass verglichen damit unsere säkularen Strukturen noch nicht wirklich auf die Probe gestellt worden sind.
Es mag sein, dass sie tatsächlich konkurrenzfähig sind und wir es in den letzten Jahrhunderten wirklich geschafft haben, eine neue Bausubstanz zu finden, welche die althergebrachten Techniken überflügelt und endgültig ablösen kann. Es mag aber auch sein, dass wir bei unseren säkularen Strukturen nichts weiter in der Hand haben als guten Stahlbeton, der dem massiven Stein der alten Religion gegenübersteht. Und wie bei Stahlbeton bewundern wir im Augenblick vielleicht nur, dass der neue Baustoff härter ist als der alte und dass damit Bauwerke möglich sind, die mit massivem Stein niemals getragen hätten werden können - aber im Gegensatz zu massivem Stein steht der temporär überlegenen Festigkeit von Stahlbeton ein sehr schneller Zerfall gegenüber, wenn die Bauten irgendwann mal nicht gewartet werden können.
Und ob wir mit unseren gegenwärtigen säkularen Surrogaten gegenüber der Religion ebenso temporäre Überlegenheit zulasten langfristiger Stabilität eingetauscht haben wie beim Wechsel vom Massivstein zu Stahlbeton, das wird sich eben erst dann erweisen, wenn unsere gegenwärtigen Strukturen den ersten massiven kulturellen Bruch überdauern müssen und das Wasser in die Ritzen unserer Gesellschaft eindringt ...
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#23 Vincent Voss

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 11:39

Hallo,

ich sehe es so, dass der Blick in die Vergangenheit gerade auch ein ethischer zu sein hat. Denn nur ein materieller Blick führt eben zu der falschen Annahme, Kulturen aufgrund ihrer hard skills, ihrer tools als anderen überlegen zu betrachten. Und er führt dazu, in einer sehr kriegerischen Sprache zu denken, wo eine Kultur den Kürzeren zieht und die andere in einer Strahlkraft glänzt. Losgekoppelt von einem ethischen Blick, würde das für mich bedeuten, dass Kriege ein Muss sind, egal aus welcher Motivation heraus. Sie sind notwendig, damit sich eine Kultur gegenüber einer anderen durchsetzt. Daraus ergeben sich für mich Legitimationen für Konzepte, die, wie ich dachte, wir zum Glück schon überwunden hatten.
Und gerade die Annahme keine Kultur hätte sich ohne Krieg zur Hochkultur (ein Begriff der Historiker) aufschwingen können, zeigt mir dass das historische Paradigma, Kulturen zu klassifizieren, einem Irrtum erlegen ist. Sogenannte Hochkulturen gleichen m.E. exothermen Reaktionen. Und fast alle sind verglüht. Aber jene Kulturen, die vom Fortschritt größtenteils ausgeschlossen lebten, verbrachten bisher zeitweise mehr als zwei Jahrtausende.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Nein, ich möchte nicht so leben und nein, ich romantisiere diesen Lebensstil nicht. Nur werden diese Leistungen nicht anerkannt, weil Historiker nicht in diesem Fach geforscht haben.

Abschließend halte ich deine Argumente für sehr technisch und zitiere einmal Hans Jonas aus seinem Werk "Das Prinzip Vernatwortung", S. 295
"Das deutet auf den Umstand hin, daß bei der Technik, anders als bei der Wissenschaft, Fortschritt eventuell auch unerwünscht sein kann (weil Technik sich nur durch ihre Effekte, nicht duch sich selbst rechtfertig). Aber sie teilt mit ihrem zum Zwilling gewordenen Erzeuger, der Wissenschaft, eben dies, daß >>Fortschritt<< als solcher in ihrer Selbstbewegung ein eindeutiges Datum ist, in dem Sinne, daß jedes Folgende dem Vorherigen notwendig überlegen ist. Man beachte, daß dies kein Werturteil sondern eine plane Tatsachenfeststellung ist: man kann die Erfindung einer Atombombe mit noch vergrößerter Zerstörungskraft beklagen und durchaus für wertwidrig halten, aber die Klage ist eben darüber, daß sie technisch >>besser<< istund in diesem Sinne leider ein Fortschritt."

Lieber Gruß

#24 Pirx

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 11:49

Als Ergänzung möchte ich noch hinzufügen, dass Religion nicht allein als Kitt einer Gesellschaft fungiert hat (oder fungiert), sondern in einem Konglomerat (es gibt durchaus viele Ansichten, welche Faktoren maßgeblich sind - wie ich mühselig in meine MA-Arbeit feststellen durfte :lol: ) unterschiedlicher Faktoren gewirkt hat. Die Bedeutung bzw. Gewichtung der jeweiligen Faktoren (die sich auch noch gegenseitig beeinflussen können) kann sich im Wandel der Zeit auch stark ändern. Historische Beispiele gibt es dafür.
Gruß

Pirx
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#25 simifilm

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 11:51

Und gerade die Annahme keine Kultur hätte sich ohne Krieg zur Hochkultur (ein Begriff der Historiker) aufschwingen können, zeigt mir dass das historische Paradigma, Kulturen zu klassifizieren, einem Irrtum erlegen ist. Sogenannte Hochkulturen gleichen m.E. exothermen Reaktionen. Und fast alle sind verglüht. Aber jene Kulturen, die vom Fortschritt größtenteils ausgeschlossen lebten, verbrachten bisher zeitweise mehr als zwei Jahrtausende.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Nein, ich möchte nicht so leben und nein, ich romantisiere diesen Lebensstil nicht. Nur werden diese Leistungen nicht anerkannt, weil Historiker nicht in diesem Fach geforscht haben.


Ich weiss nicht so recht, welche Historiker hier gemeint sollen. Zumindest in meinem Geschichtsstudium (war zwar nur zweites Nebenfach) bin ich eigentlich nie irgendeinem wertenden Vergleich von Kulturen begegnet. Was da im Zentrum stand, war die Analyse von Zusammenhängen, der Versuch zu verstehen, warum die Dinge so geschehen sind, wie sie geschehen sind. Natürlich ist dabei implizit immer der Vergleich mit der Gegenwart enthalten - wir können uns nun mal nicht völlig von unserem Herkunft lösen. Aber das Ziel war eigentlich nie ein wertender Vergleich, sondern im Gegenteil nach Möglichkeit, die Ereignisse einer Zeit aus dieser heraus zu verstehen.

Signatures sagen nie die Wahrheit.

Filmkritiken und anderes gibt es auf simifilm.ch.

Gedanken rund um Utopie und Film gibt's auf utopia2016.ch.

Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
 

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  • (Buch) gerade am lesen:Samuel Butler: «Erewhon»
  • (Buch) als nächstes geplant:Samuel Butler: «Erewhon Revisited»
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  • • (Film) Neuerwerbung: Filme schaut man im Kino!

#26 Vincent Voss

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 12:10

Hallo, genau! So wäre auch mein Verständnis zum Auftrag der Geschichtswissenschaften. Lieber Gruß

#27 Lomax

Lomax

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 13:46

Denn nur ein materieller Blick führt eben zu der falschen Annahme, Kulturen aufgrund ihrer hard skills, ihrer tools als anderen überlegen zu betrachten. Und er führt dazu, in einer sehr kriegerischen Sprache zu denken ...

Hm, mich hat dieser materielle Blick eigentlich eher dazu gebracht, bei Kulturen in erster Linie auf die Ökonomie zu schauen, und auf die Strukturen ihrer Organisation, die über die Mobilisierung ihrer Ressourcen entscheiden - auch über die "Human Ressources", womit wir letztendlich dann auch wieder bei der Ökonomie wären. :)
Werkzeuge und Krieg sind letztlich nur untergeordnete Faktoren, die sich bei einer materiellen Betrachtung ergeben. Wenn auch oft die Punkte, an denen sich die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Kultur zugespitzt zeigte. Krieg und Werkzeuge sind insofern schon nur von untergeordneter Bedeutung, weil selbst bei einem verlorenen Krieg nicht immer die Kultur des Siegers triumphiert, sondern oft gerade dadurch überlegene Elemente der besiegten Kultur Gelegenheit finden, in die Kultur des Siegers einzusickern (eine Erwägung übrigens, die ich auch in meinen nächsten Roman habe einfließen lassen, auch wenn es da hoffentlich niemand bemerkt. Ich gebe mir ja immer Mühe, abschreckende Intellektualität unter genug Action zu begraben ;) - aber tatsächlich war da der am Ende des zweiten Bandes angedeutete Paradigmenwechsel von kriegerischer Dominanz zur friedlichen kulturellen Übernahme einer der Faktoren, der das Ausgangssetting definiert hat. Das Thema hier ist für mich also nicht rein theoretisch, sondern zählt durchaus zum Kernbereich der Themenkomplexe, die ich zumindest in der literarischen Arbeit auch gerne praktisch verwende und mit denen ich im Hintergrund von Büchern experimentiere ... so viel zu meinem persönlichen Interesse an diesen Fragen).

Als Ergänzung möchte ich noch hinzufügen, dass Religion nicht allein als Kitt einer Gesellschaft fungiert hat.

Was ja bei den meisten Bestandteilen einer Gesellschaft der Fall ist, wobei nicht jeder Faktor immer dieselbe Wirkung hat, sondern je nach Wechselwirkung mit anderen "Bausteinen" auch durchaus anders funktioniert ... Wobei ich allerdings durchaus festhalten würde, dass Religion eine Leistung erbracht hat, die in der Geschichte durch andere Strukturen anscheinend nicht auch nur annähernd gleichwertig erbracht werden konnte. Und die interessante Frage für die Moderne wäre eben, ob die Funktionen von Religion, die einer Gesellschaft konkrete funktionale Vorteile verschaffen, heutzutage vollständig und gleichwertig ersetzt werden können - zumindest unter Einberechnung der Nachteile, die regelmäßig mit religiösen Strukturen einhergehen und die modernere Alternativen vielleicht nicht aufweisen.

Was da im Zentrum stand, war die Analyse von Zusammenhängen, der Versuch zu verstehen, warum die Dinge so geschehen sind, wie sie geschehen sind.

Dem stimme ich zu.

So wäre auch mein Verständnis zum Auftrag der Geschichtswissenschaften.

... aber genau dieses Anliegen des nüchternen Verstehens von Kausalitäten halte ich im Grunde für unvereinbar mit einer ethischen Perspektive auf das Geschehen.

Ich denke, eine Problematik dabei liegt schon in der Formulierung "die Ereignisse einer Zeit aus dieser heraus zu verstehen". Man mag das als Ansatz zum nüchternen Betrachten von Handlungen, Verhältnissen und Möglichkeiten einer Zeit betrachten - oder als Einladung zum Moralisieren durch die Hintertür, indem man plötzlich doch historische Abläufe wertet, nur nicht mehr aus unserer Sicht, sondern indem man (mehr oder minder geglückt) versucht, die Taten historischer Personen vor dem moralischen Hintergrund ihrer eigenen Zeit zu werten ... womit man dann in der Geschichte doch plötzlich wieder "gute" und "böse" Personen, "gute" und "schlechte" Entwicklungen findet.
Das ist übrigens eine alte Diskussion, zu der es auch tatsächlich zwei dezidierte Positionen gibt - soll man Gechichte aus unserer heutigen Zeit werten oder aus dem Geist der eigenen Epoche, um den Personen gerecht zu werden? Ich fand die eine Position so abwegig wie die andere. Alle handelnden Personen sind tot, und man sollte gar nicht erst versuchen, geschichtliche Abläufe irgendwie zu werten. Es reicht, Kausalität zu verfolgen, Ursache und Wirkung zu untersuchen und Abhängigkeiten zu verstehen. Man sollte die ethische Perspektive auf das eigene Handeln und auf konkrete Entscheidungen der eigenen Gegenwart beschränken - aber für die historischen Abläufe an sich ist jede Wertung entbehrlich und selbst der zeitgenössische Hintergrund nur insofern interessant, wie er konkret umgesetzte Entscheidungen historischer Akteure beeinflusst und einen materiellen Niederschlag gefunden hat.
Und dasselbe gilt im Grunde auch für Ereignisse unserer Gegenwart, wenn man sie in einem historischen Kontext betrachtet. Über Atomwaffen, Ressourcenverbrauch und "universelle Menschenrechte" kann man ethisch diskutieren, wenn es darum geht, wie wir heute mit diesen Dingen umgehen wollen. Wenn man betrachten will, wie sich der real erfolgende Umgang mit diesen Dingen, oder auch nur verschiedene alternative Entwicklungen möglicherweise auf das Gesamtsystem auswirken, wird die Ethik wiederum entbehrlich und man kann sich durchaus auch auf Kausalitäten und materiell wirksame Abhängigkeiten konzentrieren. Oder es zumindest versuchen, denn natürlich wird es umso schwieriger, die eigenen Werte auszuklammern, je mehr das Geschehen von der Historie ins Politische kommt.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)

#28 simifilm

simifilm

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 14:00

Ich denke, eine Problematik dabei liegt schon in der Formulierung "die Ereignisse einer Zeit aus dieser heraus zu verstehen". Man mag das als Ansatz zum nüchternen Betrachten von Handlungen, Verhältnissen und Möglichkeiten einer Zeit betrachten - oder als Einladung zum Moralisieren durch die Hintertür, indem man plötzlich doch historische Abläufe wertet, nur nicht mehr aus unserer Sicht, sondern indem man (mehr oder minder geglückt) versucht, die Taten historischer Personen vor dem moralischen Hintergrund ihrer eigenen Zeit zu werten ... womit man dann in der Geschichte doch plötzlich wieder "gute" und "böse" Personen, "gute" und "schlechte" Entwicklungen findet.
Das ist übrigens eine alte Diskussion, zu der es auch tatsächlich zwei dezidierte Positionen gibt - soll man Gechichte aus unserer heutigen Zeit werten oder aus dem Geist der eigenen Epoche, um den Personen gerecht zu werden? Ich fand die eine Position so abwegig wie die andere. Alle handelnden Personen sind tot, und man sollte gar nicht erst versuchen, geschichtliche Abläufe irgendwie zu werten. Es reicht, Kausalität zu verfolgen, Ursache und Wirkung zu untersuchen und Abhängigkeiten zu verstehen. Man sollte die ethische Perspektive auf das eigene Handeln und auf konkrete Entscheidungen der eigenen Gegenwart beschränken - aber für die historischen Abläufe an sich ist jede Wertung entbehrlich und selbst der zeitgenössische Hintergrund nur insofern interessant, wie er konkret umgesetzte Entscheidungen historischer Akteure beeinflusst und einen materiellen Niederschlag gefunden hat.


Dass man als Individuum eine Wertung vornimmt, dass man beispielsweise über die Brutalität bei den Verhören vermeintlicher Hexen im Mittelalter schockiert ist, lässt sich wohl kaum vermeiden; ja, alles andere wäre seltsam. Nur sollte diese Wertung eben nicht den Blick davor verschliessen, in welchem Kontext diese Folterungen stattfanden. Und wenn ich verstehen will, warum es zu diesen Folterungen kam, nützen mir moralische Kategorien wie "gut" und "böse" eben wenig; denn wenn ich zur Erkenntnis komme, dass die Ursache einfach in der Boshaftigkeit und Schlechtigkeit der Menschen liegt, argumentiere ich eigentlich schon in theologischen Kategorien.

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#29 Vincent Voss

Vincent Voss

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 14:04

Hallo, ich denke, dass ich deiner Argumentation bedingt folgen kann. Nur nicht in dem Punkt, wo es darum geht, Ethik aus realen Sach- und Sinnbezügen auszuklammern, weil sie entbehrlich wird. Ethik und zum Beispiel Geisteswissenschaften leisten niemals einen materiellen Wert, sind nicht messbar aber umso wichtiger in der Betrachtung von kausalen Zusammenhängen. Rein technisch formuliert kann ich sagen, dass es die Kultur x zum Zeitpunkt y vermocht hat, x xxx xxx xxx ihrer aus ihrer Sicht systemrelevanten Feinde zu vernichten. Deshalb war sie Faktor z überlegen? Lieber Gruß

#30 Vincent Voss

Vincent Voss

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Geschrieben 01 Mrz 2010 - 14:17

Hallo,

Dass man als Individuum eine Wertung vornimmt, dass man beispielsweise über die Brutalität bei den Verhören vermeintlicher Hexen im Mittelalter schockiert ist, lässt sich wohl kaum vermeiden; ja, alles andere wäre seltsam. Nur sollte diese Wertung eben nicht den Blick davor verschliessen, in welchem Kontext diese Folterungen stattfanden. Und wenn ich verstehen will, warum es zu diesen Folterungen kam, nützen mir moralische Kategorien wie "gut" und "böse" eben wenig; denn wenn ich zur Erkenntnis komme, dass die Ursache einfach in der Boshaftigkeit und Schlechtigkeit der Menschen liegt, argumentiere ich eigentlich schon in theologischen Kategorien.


Dann kann ich auch behaupten, Religion ließe sich wirklich nur erklären, wenn man glaubt, denn wissenschaftliche Kategorien wie Sozialsytem, manipulative Rhetorik, Identitätsstiftend erklären in der Wissenschaftssprache nicht, was es heißt, zu glauben.

Und dann kann man auch behaupten, dass Wisssenschaft nur Wissenschaft erklären kann. Also, das Argument verstehe ich nicht.

Lieber Gruß


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