NACHTJAGD
10. Dezember 1943, 6o 51’ west, 65o 3’ nord, europäisches Nordmeer.
Die Nacht war kalt – und kristallklar, bis auf eine breite Nebelbank, die den gesamten südöstlichen Horizont einnahm. Der aufgehende Orion hatte sich aus dem grauweißen Gespinst weitgehend befreit, Rigel glänzte matt durch die oberen Schichten des Dunstes, den das wärmere Wasser des Golfstroms verursacht hatte.
Der nahezu vollendete Mond stand hoch in den Hyaden des Stieres, gekrönt von Mars, im Osten begleitet von Saturn. Unter seinem bleichen Licht schimmerte die ruhige See wie eine gehämmerte, geschwärzte Metallplatte.
Auf der ungeschützten Backbord-Brückennock des 62.000 Tonnen Schlachtschiffs wehte ein eiskalter Fahrtwind von 25 Knoten. Der Offizier, der dort einsam Wache hielt, zeigte sich davon unbeeindruckt. Lediglich der Kragen des schweren Uniformmantels war hochgeschlagen. Ab und zu hob er ein lichtstarkes Fernglas an die Augen, den Blick nach Südosten gerichtet, auf die undurchdringliche Nebelwand.
Irgendwo dort draußen mußte sich der Feind befinden, wenn die Angaben der Fernaufklärung korrekt waren. Nein – nicht der Feind, korrigierte er sich. Der Gegner. Genaugenommen seine letzten einsatzklaren Großkampfschiffe. Der einzige Feind hier draußen war die See – und sie war absolut gnadenlos.
Etwa zwanzig Hektometer voraus pflügte ein identes Schiff auf gleichem Kurs durch das Nordmeer. Im bleichen Mondlicht hob sich die geisterhaft beleuchtete, massive Silhouette gut von dem dunklen, sternenklaren Horizont ab. Viel zu gut. Eine Einladung für jedes herumlungernde U-Boot, das den U-Jagd Staffeln der Marineflieger entgangen war. Man würde ja sehen…
Schritte näherten sich, Hacken wurden knallend zusammengeschlagen.
„Herr Vizeadmiral…!“
Gemächlich wandte sich der Angesprochene um und erwiderte lässig den exakten Gruß. „Stehns’ bequem, Herr Leutnant. Hamma endlich was?“
„Jawohl, Herr Vizeadmiral! Funkortung meldet Oberflächenkontakt! Zwei Einheiten auf Südwest zu Süd, 310 Hektometer!“
Der junge Leutnant zur See wirkte nervös – nein, aufgeregt. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt. Nur zu verständlich. Der Krieg ging bald in sein zweites Jahr und Seiner Majestät Schiff FRIEDRICH DER GROSSE hatte bis jetzt nur einen Zerstörer, einen halben leichten Kreuzer und knapp 21.000 BRT an Frachtern und Tankern aufzuweisen. Gut – man durfte die bislang drei oder vier Staffeln britischer und französischer Marineflieger nicht außer acht lassen, die von den radargesteuerten 130 cm-Batterien verschrottet worden waren, ehe sie auch nur in die Nähe des gigantischen Schlachtschiffs gelangen konnten.
Vizeadmiral Vormbacher sah schräg nach oben, wo sich auf dem Dach des massiven Kommandobunkers eine der Gitterantennen der Funkmeßanlage drehte. Noch höher oben, auf dem Dach des Brückenturms und dem Hauptmast, kreisten weitere Antennen. Sie waren es wahrscheinlich, die den Kontakt hergestellt hatten. Der darunter befindliche optische Hauptentfernungsmesser hatte sich bereits nach Backbord ausgerichtet, nur für alle Fälle, denn bei den eingeschränkten Sichtbedingungen war er im Moment nutzlos.
„Na dann – schau ma amal…“
*
Auf der ersten Ebene des Kommandobunkers herrschte bereits rege Aktivität – und gedämpftes Licht. Die merklich trockene Luft war ein Ergebnis der effizienten Klimaanlage, die hohe Temperatur hatte eine andere Ursache.
„Aaachtung!“ brüllte ein Fähnrich zur See.
„Scho recht – weitermachen!“ würgte Vormbacher die sich anbahnende Meldezeremonie ab. „Schneider…!“
Der angesprochene Kapitän zur See und Kommandant Seiner Majestät Schiff FRIEDRICH DER GROSSE schlug knallend die Hacken zusammen.
„Stehns’ doch bequem. Wie ist die Lage?“
Mit wenigen Handgriffen öffnete Vormbacher den schweren Mantel und ließ sich das hinderliche Kleidungsstück abnehmen. Auch seiner Majestät Uniformrock durfte in diesen Räumlichkeiten offen getragen oder abgelegt werden, dies hatte er persönlich angeordnet, die Hitze wurde sonst schnell unerträglich.
„Herr Vizeadmiral – mehrere Oberflächenkontakte auf 213 Grad bei 308 Hektometer, Kurs 327 mit 15 Knoten. Relative Annäherung mit einskommazwei Hektometer pro Minute.“
Nachdenklich zupfte Vormbacher an seinem bereits ergrauten Backenbart. Ein paar Schritte brachten ihn zum zentralen Element des Gefechtsstands – den runden, gut 70 Zentimeter durchmessenden, geheimnisvoll grün leuchtenden Bildschirmen der Funkmessdarstellung. Die Aufschrift
TELEFUNKEN prangte unübersehbar auf den Bedienkonsolen. Einer der Ortungsoffiziere, ein Leutnant zur See, wollte respektvoll Platz machen.
„Bleibens’ nur, ich seh schon…“
Präzise alle sechs Sekunden vollendete ein leuchtender Fächer eine Umdrehung. Das entsprach der Antennenrotation auf dem Vormars. Eine Anzahl kräftiger Kontakte leuchtete steuerbordseitig nahe des Zentrums auf. Die hellgrünen Striche verblaßten schnell, blieben aber bis zum Beginn des nächsten Zyklus sichtbar.
20 Hektometer voraus fuhr die GROSSER KURFÜRST, etwa gleich weit achteraus folgte die LÜTZOW, Namensschiff der kleineren, älteren Schwester der neuen KÖNIG VON PREUSSEN-Klasse.
40 Hektometer nach Steuerbord versetzt, reihten sich vier kräftige Kontakte wie eine Perlenschnur aneinander, ebenfalls 20 Hektometer getrennt. MACKENSEN führte die Kolonne der alten Schlachtkreuzer an, gefolgt von GRAF SPREE, ADMIRAL VON STOSCH und ADMIRAL VON KNORR. Trotz umfangreicher Umbauten Mitte der 30er Jahre – unter anderem war die Deckpanzerung verbessert und die Kesselanlagen auf Ölfeuerung umgestellt worden – waren sie nach heutigen Standards unzulänglich. Die forcierte Marschgeschwindigkeit von 20 Knoten stellte ihre alten Dampfturbinen auf eine harte Probe. Immerhin hatte ihr Gefechtswert von der Installation der elektromechanischen
SIEMENS-BALLISTOMAT Feuerleitrechner und der Funkmeßunterstützung der Artillerie enorm profitiert.
Unter den 35 cm Salven der GRAF SPREE war in den ersten Kriegstagen die britische HOOD explodiert, kurz danach hatte die ADMIRAL VON STOSCH die KING GEORGE V niedergekämpft und die MACKENSEN einen Flugzeugträger versenkt sowie dessen Zerstörerbegleitung zusammengeschossen – dies alles auf Entfernungen, die man im Krieg von 1916 als blanke Phantasterei abgetan hätte.
Weitere 40 Hektometer Steuerbord querab flimmerte eine lange Doppelreihe von Kontakten, dort war die Geleitabteilung aus vier leichten Kreuzern und zehn Zerstörern postiert.
Backbord, am Rand des Erfassungsbereich, zeichneten sich inzwischen nahe der 300 Hektometer-Begrenzung fünf Kontakte ab. Zwei etwas hellere, kräftigere, führten die Reihe an, drei schwächere folgten in größerem Abstand und etwa zehn Hektometer nach Backbord versetzt.
„Die Luftlage?“ fragte Vormbacher knapp.
„Keine Kontakte, Herr Vizeadmiral!“
„Funkmeßsignale aus Richtung der Kontakte?“
„Keine Meßsignale auf der 86 cm-Welle, keine Sprechfunksignale, Herr Vizeadmiral!“
Fünf britische Großkampfschiffe hatten vor etwas mehr als einem Tag in Begleitung von Kreuzern und Zerstörern ihre Basis auf den Orkneys verlassen, resümierte Vormbacher: QUEEN ELIZABETH, WARSPITE, RENOWN, NELSON und RODNEY. REPULSE würde nach ihrem Gefecht mit der BÜLOW, einem Schwesterschiff der LÜTZOW, ihren Liegeplatz für viele Monate, eher Jahre, nicht mehr verlassen. PRINCE OF WALES und DUKE OF YORK hatten sich nach einem verhängnisvollen Nachtgefecht mit LÜTZOW, GROSSER KURFÜRST und KRONPRINZ WILHELM schwer beschädigt nach Liverpool und Birkenhead geschleppt – genaugenommen waren sie geschleppt worden. Ob sie jemals wieder aus eigener Kraft in See stechen würden, war eher fraglich.
REVENGE hatte weniger Glück gehabt. Durch frühzeitige Treffer ihrer Hauptartillerie und Feuerleitung beraubt, hatte sie sich mit Ostkurs aus dem Gefecht zurückgezogen – nur um südwestlich der Hebriden U-87 in die Hände zu fallen. Nach zwei Torpedotreffern war sie tief im Wasser liegend mit starker Schlagseite zunächst aufgegeben worden. Tags darauf hatten zwei Hochseeschlepper versucht, sie nach Clydebank zu schaffen. Bei der Einfahrt in den North-Channel mußten in schwerem Wetter die Trossen gekappt werden, worauf sie einige Stunden später gesunken war.
„Gut. Signalisiern’s den Schlachtkreuzern, sie sollen sich zurückfallen lassen und hinter der LÜTZOW einordnen. Absolute Funkstille halten. LÜTZOW hat die Kontakte bestätigt?“
„Jawohl, Herr Vizeadmiral!“
„Schön. Dann signalisiern’s ihr, Kommando über Schlachtkreuzerabteilung übernehmen. Zielauswahl nach Aufstellung, auf unser Feuer warten. Zielfreie Schiffe achten auf neue Kontakte.“
Sehr wahrscheinlich wurde der gegnerische Verband von Zerstörern begleitet. Die kleinen, schnellen Schiffe zeichneten erst spät in der Funkmeßortung – und hatten die unangenehme Eigenschaft, selbstmörderische Torpedoangriffe zu fahren. Die KÖNIG VON PREUSSEN konnte ein Lied davon singen. Zwei Torpedotreffer durch Zerstörer, die zu diesem Zeitpunkt längst brennend sinkende Wracks gewesen waren, hatten dem 62.000 Tonnen Schlachtschiff vier Monate Werftaufenthalt verschafft.
„KURFÜST hat bestätigt?“
„Jawohl, Herr Vizeadmiral!“
„Signalisiern’s – Zielerfassung vorderes Schiff, auf unser Feuer warten.“
„Jawohl, Herr Vizeadmiral!“
*