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Werkstattbericht zum "Dunklen Buch des Anbeginns"


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5 Antworten in diesem Thema

#1 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 29 Januar 2020 - 20:04

In diesem Thread möchte ich gern ein paar Punkte diskutieren, mit denen sich jeder Autor beim Schreiben eines Romans herumschlagen muss (oder vielleicht nur ich, wer weiß, das gilt es herauszufinden). Das Ganze beschreibe ich (gänzlich uneigennützig) dann am Beispiel meines letzten Romans, weil ich bei dem noch relativ zuverlässig weiß, was ich mir an welcher Stelle gedacht habe.

Mir schweben dabei etwa folgende Punkte vor:

  • Von der Idee zum Roh-Konzept
  • Logline / Prämisse
  • Protagonist (Save the Cat)
  • Struktur eines Romans, verschiedene Konzepte
  • Snowflake-Methode
  • das Board (Karten legen)
  • ...

Dabei möchte ich auch bei den entsprechenden Punkten auf Konzepte aus diversen Schreibratgebern eingehen, die ich hilfreich fand.

 



#2 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 29 Januar 2020 - 20:07

Von der Idee zum Roh-Konzept

Woher nehmen Sie Ihre Ideen? Diese Frage wird immer wieder gern gestellt. Allerdings habe ich eigentlich noch nie unter einem Mangel an Ideen gelitten. Ideen kommen jetzt nicht ständig, aber relativ regelmäßig. Dann schreibe ich sie auf und trage sie sobald wie möglich in ein Notizbuch ein, das ich zu diesem Zweck besitze. Und dieses Notizbuch blättere ich bei anderen Gelegenheiten immer wieder durch, spiele mit den Ideen herum, die ich darin wiederentdecke, verbinde vielleicht verschiedene Sachen, und irgendwann wird die Sache größer. Dann wird es Zeit für einen Ordner auf meinem Computer. Dieser enthält zumindest eine Textdatei und zusätzlich alle möglichen Dateien, auf die ich im Internet zu diesem Thema stoße. In der Textdatei bastele ich an der Idee herum, bis ich ein "Roh-Konzept" mit einer Art Arbeitstitel habe. (Ziel: Ich lese den Titel und kann mich sofort erinnern, was mir dazu ungefähr vorschwebt). Diesen Titel benötige ich für eine priorisierte Liste mit allen Ideen, die ich aktuell für einigermaßen brauchbar halte. Diese Liste besteht aus zwei Teilen, zum einen sammelt sie alles, und es gibt eine Top-5 (müssen jetzt nicht genau 5 sein, ist aber eine gute Zahl). Bedeutet: Wenn ich heute mit einem neuen Buch anfangen wollte, würde ich mit einem der Top-xx starten.

 

So ist auch "Im dunklen Buch des Anbeginns" seinerzeit auf die Liste gewandert. Ich habe in diesem Interview mit Mammut schon einmal kurz beschrieben, wie ich auf die Idee kam. Ich weiß sogar noch etwas genauer, wie ich überhaupt auf die "Physik der Unsterblichkeit" von Frank J. Tipler stieß. Und zwar war es vor einiger Zeit ja noch üblich, bei Amazon Ebooks für eine gewisse Zeit kostenlos anzubieten, und wie viele andere habe ich am Anfang ziemlich viele dieser kurzfristig kostenlosen Bücher heruntergeladen, bis ich eingesehen habe, dass dies aus mehreren Gründen eine sehr dumme Art ist, sich Bücher zum Lesen auszusuchen. Manche dieser Ebooks habe ich tatsächlich gelesen, darunter eines, in dem es um "Sieben Wege zur Unsterblichkeit" ging, genauer um Anti-Aging-Methoden, Kryonik, etc. aber auch um eher philosophische Konzepte wie die Ständige Wiederkehr oder eben die Idee des Gottes im Omega-Punkt. Es würde etwas zu weit führen, hier genauer auf diese Wunschvorstellung eines werdenden Gottes einzugehen, die sich als wissenschaftliche These tarnt; besonders, da ich mir eigentlich nur zwei Punkte herausgepickt habe:

 

(1) Das Leben soll die Kontrolle über das gesamte Universum bekommen und muss sich deshalb im gesamten Universum ausbreiten, und zwar a) Leben reduziert auf Information und b) technisch mit Hilfe von sich selbst reproduzierenden Von-Neumann-Sonden.

 

(2) Alles Leben und alle Information sammeln sich schließlich im Endpunkt des Universums, insbesondere werden alle Wesen letztendlich in diesem allmächtigen/allwissenden Computer als Simulation wiedewrauferstehen. (Warum? Weil es ein netter Gott ist, der uns liebt ...)

 

Diese beiden Sachen kann man bereits miteinander kombinieren, ohne dass es des Omega-Punktes bedarf: Eine Von-Neumann-Sonde, die sich in einem beliebigen Sonnensystem selbst reproduzieren kann, muss selbst schon ein sehr mächtiger Computer sein, und kann deshalb das Heilsversprechen der Wiederauferstehung als Simulation in seinem Speicher abgeben. Und schon hat man das Konzept einer Von-Neumann-Sonde, die in einem neuem Sonnensystem Leben erschafft/beeinflusst, diesen Lebewesen das ewige Leben auf seiner Festplatte verspricht und von ihnen als ein höheres Wesen, ein Gott angesehen wird. Und während ich mir dann überlegte, was für Religionen das wohl sein könnten, die sich aus einem solchen Computer-Gott ableiten könnten, erkannte ich plötzlich, dass ich zeitlich in der falschen Richtung suchte: Der Gott der Bibel passt nämlich ebenfalls genau zu diesem Bild.

 

Und nach diesem Klick rattern dann die Rädchen los. Unzählige Möglichkeiten: Adam und Eva, Sintflut, Schöpfung der Menschen und Engel, das Paradies als ewiges Leben im Cyberspace, also auch die entsprechende Vertreibung der Menschen aus diesem Paradies, die Wundergeschichten der Bibel, kann man für religiöse Glaubensvorstellungen alternative Entstehungsmöglichkeiten finden, aus derem Blickwinkel sie Sinn ergeben, die Rebellion der Engel, Jakobs Himmelsleiter, ...

Ich schreibe dann alles auf, einfach in eine Textdatei, untereinander weg, solange dieser Zustand andauert. Und danach kann ich mit dieser Datei bequem arbeiten, kann Sachen ändern, an gewissen Stellen etwas hinzufügen, per Cut&Paste umsortieren. Auf diese Art und Weise bekomme ich mehr und mehr Struktur in die Geschichte und habe schließlich Arbeitstitel und Roh-Konzept für meine Übersichtsliste.

 

Für die Verwaltung meiner Ideen für Schreibprojekte habe ich also drei Dokumente:

- das Notizbuch (in Papierform), Lichtenberg würde es Sudelbuch nennen und auf dem Computer - einen Ordner/Textdatei je Idee - Top-xx-Liste als Datei

 

Wenn dann eines der möglichen Projekte ausgewählt wird, liegt die entsprechende Textdatei mehr oder weniger ausführlich vor. Eventuell müssen noch weitere grundlegende Ideen gesammelt und eingeordnet werden. Aber irgendwann ist es mit dieser eher ausbrütenden Phase vorbei und Zeit für den nächsten Schritt: Die Logline oder Prämisse.  


Bearbeitet von Michael Böhnhardt, 29 Januar 2020 - 20:08.


#3 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 01 Februar 2020 - 16:09

Logline vs. Prämisse

Es herrscht etwas babylonische Sprachverwirrung um den Begriff Prämisse herum. Zum ersten Mal ist er mir in Freys “Wie man einen verdammt guten Roman schreibt† begegnet. Dort ist das mehr eine Art “Moral von der Geschicht†.

“Loyalität zur Familie führt zu einem kriminellen Leben.† (Der Pate)
 
Für Frey ist die Prämisse wie eine (fast mathematische) Behauptung, die der Roman zu beweisen sucht. Also formuliert man sie sich als Autor am besten in der Form:

 

Eine bestimmte Art zu handeln führt zu folgendem Ergebnis.

 

Und damit kann man jetzt hervorragend arbeiten, wenn man entscheiden möchte, ob bestimmte Dinge zur Geschichte gehören oder gestrichen werden sollten/müssten. Wenn eine bestimmte Szene nichts dazu beiträgt, die Wahrheit der gewählten Prämisse zu beweisen, so hat sie in dem Buch nichts verloren. (Eine Idee, von der weder Stephen King noch George R. R. Martin jemals etwas gehört zu haben scheinen, und trotzdem ...)

 

Diese Interpretation von “premise† habe ich sonst nirgends gesehen, allerdings findet sich ein ähnlicher Inhalt manchmal in dem Begriff “theme† wieder (jedoch ohne die mathematische Strenge).

 

“Premise† bezeichnet sonst eher die Kurzfassung eines Romans. Das Ziel ist es, den Inhalt der Geschichte in einem Satz zusammenzufassen. Das kann(!) zusammenfallen mit der sogenannten Logline, die ebenfalls in einem Satz erklären soll, worum es eigentlich geht. Der Zweck der Logline ist aber eindeutig Marketing. Kann ich für das, was ich schreiben will, auch bei jemandem Interesse wecken. Und zwar schnell, denn sooo lange hören einem die Leute nun mal nicht zu. (Liest hier noch jemand mit?)

 

Blake Snyder (Save the Cat) schwört hier, mehr in Bezug auf Filme, auf eine Kombination aus Titel plus danach abgefeuerter Logline, die das Konzept überzeugend rüberbringen soll. In meinem Beispiel wäre das etwa:

 

“Im dunklen Buch des Anbeginns†
Der Gott der Bibel ist eine künstliche Intelligenz aus dem Weltall, hat Menschen und Engel durch Genmanipulation erschaffen und kämpft mit ihnen um die Kontrolle über die Erde.

 

Ein anderes Beispiel, das mir im Rahmen dieses Forums sofort einfällt, sind Dirk van den Booms “Kaiserkrieger†.
“Ein Kriegsschiff aus dem wilhelminischen deutschen Kaiserreich gelangt durch einen Zeitsprung zurück in das römische Kaiserreich und wird in die dortigen Konflikte verwickelt.†

 

Das reicht völlig aus, um das Ding zu verkaufen. Jeder hat sofort ein Bild davon, worum es geht und was er von dem Buch erwarten kann. Das ist aber noch keine Prämisse. Diese fasst tatsächlich die Handlung in einem Satz zusammen, mitsamt Protagonist, Antagonist und zentraler Konflikt. Und es ist tatsächlich so: Solange man das nicht kann, hat man keine solide Grundlage für die Geschichte. Die Prämisse ist der erste Schritt zur Strukturierung des Romans. (Sie ist aber auch ein Verkaufsargument, allerdings mehr in Richtung Verlag/Agent)

 

Nehmen wir noch einmal den Paten (um den Unterschied zu Frey zu sehen):
“Der jüngste Sohn eines Mafiabosses entschließt sich, Rache für den Anschlag auf seinen Vater zu nehmen, und steigt zum neuen Oberhaupt der Familie auf.†

 

Jemand, der sich sehr genau mit der Entwicklung der Prämisse beschäftigt, und welche Vorteile es bringt, sich wirklich sehr ausführlich in diesem Stadium aufzuhalten, ist Truby in “The Anatomy of Story†. Allerdings finde ich seinen oberlehrerhaften Tonfall relativ schnell nervig.

 

Ich selbst habe mir folgende Vorgehensweise angewöhnt:
Was muss rein in die Prämisse?

  • Protagonist
  • Antagonist
  • zentraler Konflikt / Handlung (auf welche Weise wird er ausgetragen)

Wenn es eine Gelegenheit gibt, mal so richtig mit Adjektiven auf die Kacke zu hauen, dann ist es bei der Entwicklung der Prämisse. Es gilt, sowohl dem Protagonisten als auch dem Anatgonisten die für die Geschichte beste zentrale Eigenschaft zuzuordnen. Die müssen dann besonders gut zum zentralen Konflikt als auch zur Art und Weise passen, wie dieser ausgetragen wird.
z.B. bietet es sich an, einen Ordnungsfanatiker in eine sehr chaotische Handlung zu werfen, oder einen Moralapostel ein Bordell erben zu lassen, usw.

 

Versuchen wir das mal mit der vagen Idee “Das verlorene Paradies† von Milton, also der Aufstand der Engel um Luzifer gegen Gott, soll in einem Weltraumsetting spielen. (Durch diese Einschränkung habe ich natürlich schon einige Auswahlschritte übersprungen, im Rahmen meiner Logline wäre vieles andere möglich gewesen).

 

Also fange ich an, über den Protagonisten zu sinnieren.
Luzifer:
rebellisch, ziellos, gelangweilt, leidet unter seinem sinnlosen Leben ...
Das Gleiche mit dem Antagonisten Gott:
kalt, gefühllos, streng, gleichgültig zu seinen Geschöpfen, setzt seine Regeln unbeirrt durch ...

Man sieht schnell, das läuft psychologisch ein wenig auf einen Vater-Sohn-Konflikt heraus. Das hat aber etwas wenig Pep, doch zum Glück:

 

In ihrem eigentlichen Konflikt geraten sie über die Erde (den Planeten Eden)
Luzifer erkennt in der Erde unendliche Möglichkeiten, sich zu entfalten,
von Gott wird aber nur genau ein Weg toleriert
(er hat aber dafür Gründe, die Luzifer während seiner Rebellion erkennt,
werden ihm andere Lösungen einfallen?)

 

Aus diesen ganzen Überlegungen habe ich letztendlich zusammengebaut:

 

Der im Weltraum dahindümpelnde Luzifer rebelliert gegen einen kontrollsüchtigen Gott-Computer und führt eine Schar Engel aus dem Cyberspace in die Freiheit des Planeten Eden, wo es immer schwieriger wird, den verwildernden Haufen unter Kontrolle zu halten.

Dazu möchte ich noch zwei Dinge anführen: Zum einen habe ich oben bei Eigenschaften und Konflikten nur die angeführt, die ich schließlich gewählt habe. Natürlich sollte man mit allerlei Möglichkeiten herumspielen, bis man die möglichst beste Kombination gefunden hat. Zum anderen habe ich in die Formulierung mehr hineingebaut, als ich zum Strukturieren bräuchte, sie ist so, wie sie da steht, ebenfalls zur Kommunikation der Idee an andere gedacht.


Bearbeitet von Michael Böhnhardt, 01 Februar 2020 - 16:12.


#4 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 08 Februar 2020 - 09:32

Der teuflische Protagonist oder Im Weltraum gibt es keine Katzen

 

"Save the Cat" heißt ein Buch von Blake Snyder, das ich wirklich jedem Autor wärmstens ans Herz legen kann, auch wenn es sich vor allem an Drehbuchschreiber wendet. Es gibt inzwischen (von einer anderen Autorin) "Save the Cat Writes a Novel" und dies ist ebenfalls sehr hilfreich, aber das Original sollte man sich trotzdem gönnen, einfach weil es unterhaltsam zu lesen ist.

 

Nun, was ist unser Problem? Wir haben mit Luzifer, dem Teufel, einen Protagonisten mit denkbar schlechtem Leumund. Und in dem Buch wird er diesem Ruf besonders am Anfang an vielen Stellen durchaus gerecht. Wie soll man da das Publikum dazu bringen, mit einem solchen Protagonisten mitzufiebern? Man lässt ihn möglichst bald eine liebenswerte, positive Handlung vollbringen. Eben zum Beispiel ein kleines Kätzchen retten.

 

Echt jetzt? Muss das sein? Es sollte doch genügen, den Protagonisten interessant zu machen. Ich denke nicht. Das Ziel ist es ja, Spannung dadurch aufzubauen, dass sich die Frage stellt, ob der Protagonist sein Ziel erreicht. Es darf dem Leser nicht egal sein. Dafür muss man den Protagonisten sogar mögen, da reicht nicht mal reine Empathie. Die einzige Alternative, die mir einfällt: das Ziel selbst ist emotional aufgeladen. Es ist egal, wer genau es erreicht. Hitler töten oder ihn gewinnen lassen ist da das Paradebeispiel. Da hat man nur das Problem, dass man möglichst rasch dieses ultimative, emotional aufgeladene Ziel ins Spiel bringen muss, und außerdem gibt es so viele emotional aufgeladene Ziele gar nicht. Wie of wurde Hitler schon getötet und wie oft hat er schon den Zweiten Weltkrieg gewonnen?

 

Ja aber, ja aber ... Ob der Teufel die Macht über die Welt erlangt, wenn das mal keine emotional aufgeladene Frage ist! Seien wir ehrlich: Als diese Frage noch emotional aufgeladen war, da hat man noch Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und spätestens heute: denkt man an das ultimativ Böse, das auf keinen Fall die Macht übernehmen darf, so spielt Luzifer schon lange nicht mehr in der ersten Liga.

 

Also retten wir Kätzchen. Klingt einfach, aber ...

 

Zunächst einmal ist es ziemlich schwierig, eine Katze zu retten, wenn es keine Gelegenheit dazu gibt. Es muss andere Figuren geben, zu denen man großherzig sein kann, aber Luzifer inspiziert am Anfang allein automatische Industrieanlagen. Die erste Figur, der er begegnet, ist so nervig, dass er genug damit zu tun hat, ihr nicht den Hals umzudrehen. Könnte man dann natürlich ändern, und wahrscheinlich lohnt es auch, der Handlungslogik entsprechend Gewalt anzutun. Was tut man nicht alles, um ein Kätzchen zu retten.

 

Aber genau betrachtet gibt es hier ein prinzipielles Problem: Als Luzifer zum ersten Mal auf Menschen trifft, also auf die, mit denen sich der Leser am besten identifizieren kann, handelt er alles andere als positiv. (Dasselbe gilt für die zweite wichtige Figur Lilith/Lilitu. Originalton Testleser: "Hat mich schon irritiert, als sie plötzlich anfing, Menschen zu verspeisen.") Das kann ich auch nicht einfach anpassen, denn die beiden sind keine Menschen, sie begegnen zum ersten Mal welchen, sie haben keine Ahnung, was Menschen gegenüber angemessen wäre. Das ist ja der Witz an der Sache.

 

Und wenn ich jetzt versuche, möglichst rasch Luzifer seinen Engeln gegenüber nett und großherzig sein zu lassen, stehe ich vor dem umgekehrten Problem: Jetzt weiß am Anfang der Leser noch nicht, in welchem Bezugsrahmen er besonders positives Handeln unter Engeln erkennen sollte.

 

Ich habe also zähneknirschend auf eine explizite SaveTheCat-Szene verzichtet. Snyder relativiert seine Forderung nach einem geretteten Kätzchen später etwas und bringt andere Beispiele, wie es Filmen gelungen ist, Sympathie zu eigentlich negativen Figuren aufzubauen: "Versuch's mit Humor", und "Mache die anderen noch böser". Beides wird man "Im dunklen Buch des Anbeginns" finden. Außerdem kann sich jeder Leser mit Luzifers Ausgangssituation identifizieren: Das Buch beginnt, indem er mit den Tücken der Technik kämpft, einer Maschinenwelt, in der für Lebewesen kein Platz ist; und sein gesamtes Leben wird von einem Computer geregelt, und zwar bis ins Kleinste hinein diktiert. Der Leser weiß also, wie er sich fühlen würde. Und die positive Eigenschaft, die Luzifer auszeichnet, kann von Anfang an immer wieder demonstriert werden: Der Kerl gibt einfach nicht auf.


Bearbeitet von Michael Böhnhardt, 08 Februar 2020 - 09:33.


#5 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 15 Februar 2020 - 15:22

Das Leben ist Veränderung

 

Als Nächstes heißt es nun, die Entwicklung des Protagonisten zu planen. Warum? In einer Geschichte geht es um Veränderung. Wenn die Ereignisse in der Geschichte nicht so wichtig wären, dass sich die betroffene Person dadurch veränderte, dann lohnt es nicht, sie überhaupt aufzuschreiben. Damit das Publikum emotional auf die Geschichte reagiert, muss sich die Figur verändern. Darum lieben wir Geschichten, weil sie uns erzählen, dass wir uns im Leben verändern müssen und uns die Blaupause dafür liefern, wie dieser Prozess vonstatten geht ... Man sieht, da kann man sich immer weiter hineinsteigern.

 

Trotzdem habe ich so meine Zweifel. Ich stelle mir dann immer die Höhle vor, in der der Jäger von seiner Mammutjagd erzählt und frage mich: Was wollten die Zuhörer hören? Wie der Jäger sich durch das Erlegen dieses Mammuts veränderte (was er wohl kaum tat, es sei denn, es war das erste Tier, das er erlegte), oder wie er das Tier erwischt hat?

 

Und wie ist es heute? Hat sich John McClane in "Stirb langsam" wirklich verändert? Und ist es nicht das immer gleiche "Yippieeiyeah, Schweinebacke!", was dem Zuschauer das Grinsen ins Gesicht zaubert? Und ist die an den Haaren herbeigezogene Veränderung seines Partners nicht sogar ein wenig peinlich? ("Hurra, ich kann endlich wieder Menschen erschießen!") Vielleicht habe ich auch nur eine andere Vorstellung davon, was Veränderung bedeutet. Natürlich muss die Figur etwas lernen, nämlich wie man das aktuelle Ziel erreicht / Problem löst. Aber das ist für mich keine psychologische Veränderung.

 

Aus meiner Sicht gibt es einfach zwei Ebenen, auf denen Geschichten emotionale Reaktionen auslösen. Da haben wir einmal die äußere Ebene:

 

Die Figur möchte irgendein (äußeres) Ziel erreichen, das Streben danach treibt die Handlung voran ("Desire"). Und die Figur hat verdammt gute Gründe, dieses Ziel zu erreichen, um genügend Spannung aufzubauen.

 

Es läuft also folgendes Schema ab:

  • Figur möchte Problem lösen / Ziel erreichen
  • falsche Handlungsoptionen gewählt
  • Misserfolge / Rückschläge
  • andere Handlungsoptionen
  • ...
  • Dringlichkeit des Ziels / Problems steigt immer weiter
  • letzte Handlungsoption wird gewählt => Problem wird gelöst /Ziel erreicht
  • (oder nicht)

 

Und dann haben wir die innere Ebene:

 

Die Figur hat üblicherweise einen Charakterfehler, der überwunden werden muss ("Weakness"). Die Figur hat ein Bedürfnis ("Need"). Aber es ihr selbst nicht bewusst (sonst würde sie ihr Verhalten ja hoffentlich ändern). Im Laufe der Geschichte sollte diese Selbsterkenntnis kommen. Daraus ergeben sich etwa folgende Stufen:

 

  • Figur hat Charakterfehler / Bedürfnis
  • durch Handlungen offenbart sich Charakterfehler
  • Charakterfehler wird durch von Figur erkannt (zumindest vom Leser)
  • Figur überwindet Charakterfehler (oder nicht)

 

Und diese beiden Ebenen laufen nebeneinander her, und Geschichten unterscheiden sich dadurch, wie sie die Balance zwischen den Ebenen wählen. Die Ebenen sind verbunden durch die gewählten Handlungen der Figur (bzw. bereits auch durch die Pläne, die sie schmiedet). Prinzipiell sind vier Extremformen denkbar:

 

  • es gibt gar keinen Charakterfehler, sondern man sucht nur den richtigen Weg für das äußere Problem
  • beide Ebenen fallen zusammen, nämlich wenn das äußere Ziel nur dann erreicht werden kann, falls der Charakterfehler überwunden wird
  • es gibt kein wirkliches äußeres Problem (extrem schöngeistige Literatur)
  • das Verfolgen des äußeren Problems an sich ist der Charakterfehler

 

Die meisten Geschichten balancieren beide Bereiche aus und sehr häufig kommt man zum Schluss an die Stelle, an der der Protagonist eine Wahl (moral choice) treffen muss. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:

  • die Wahl zwischen dem Erreichen des äußeren Ziels und dem Überwinden des Charakterfehlers
  • das äußere Ziel kann auf zwei Arten erreicht werden, eine überwindet den Charakterfehler

 

Für uns heißt das also ... Atmen wir erst einmal kurz tief durch. Wenn man sich diese lange Litanei ansieht, und zudem bedenkt, dass wir noch gar nicht über den strukturellen Aufbau der Geschichte gesprochen haben, stellt sich schon die Frage: Kann man das alles vor dem eigentlichen Schreiben sinnvoll planen? Und die Frage ist eher rhetorisch. (Nein, kann man nicht.) Soll man sich deswegen nun gar keine Gedanken machen? Gibt es vielleicht einen Mittelweg? (Auch wieder eine rhetorische Frage ...)

 

Für mich hat sich eine zyklische Vorgehensweise auf verschiedenen Ebenen als am brauchbarsten herausgestellt, und die Grundlage dafür ist die sogenannte Snowflake-Methode.


Bearbeitet von Michael Böhnhardt, 15 Februar 2020 - 15:23.


#6 Michael Böhnhardt

Michael Böhnhardt

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Geschrieben 26 Februar 2020 - 18:18

Fatal fraktal

 

Die Snowflake-Method verweist auf fraktale Geometrie, genauer auf die sogenannte Koch-Kurve. Durch eine immer wieder gleich ausgeführte Konstruktionsvorschrift erhält man aus einer einfachen geometrischen Figur (Strecke oder besser Dreieck) eine sehr komplizierte (Schneeflocke).

 

Zu Beginn hat man eine Strecke mit einer bestimmten Länge, also erstmal eine Kante.

Jetzt startet der iterative Prozess:

In jedem Schritt:

  • Teile jede vorhandene Kante in drei gleiche Teile.
  • Ersetze das mittlere Teil durch zwei Kanten derselben Länge.

(Man setzt also auf das mittlere Drittel im Prinzip ein gleichseitiges Dreieck drauf und löscht dann die Grundseite weg.)

In jedem Schritt werden also aus einer Kante vier neue Kanten. Jeder neue Schritt muss also die vierfache Anzahl von Kanten bearbeiten.

Das Ganze gibt ein cooles Muster, das noch cooler aussieht, wenn man nicht mit einer Strecke startet, sondern mit einem gleichseitigen Dreieck. Dann sieht schon nach wenigen Iterationen das entstehende Gebilde immer mehr wie eine Schneeflocke aus.

 

Wer sich das nicht bildlich vorstellen kann (und wer kann das schon), bitte oben dem Link nach Wikipedia folgen oder dem gleich folgenden, denn auch dort gibt es eine Grafik dazu.

 

Die Schneeflocken-Methode von Randy Ingermanson zum Schreiben von Geschichten hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser iterativen Mustererzeugung. Offenbar stellt er die Vorgehensweise in verschiedenen Quellen etwas unterschiedlich dar, denn diese deutsche Beschreibung z.B. weicht bei den einzelnen Schritten in Kleinigkeiten ab. Ich finde die Texte hinter beiden Links sehr hilfreich, und auch gerade die Tatsache, dass bei den einzelnen Schrittbeschreibungen gewisse Abweichungen auftreten.

 

Das Prinzip ist also in etwa:

 

  • Handlung in einem Satz
  • Handlung in einem Absatz
  • Charakterbogen
  • Handlung auf einer Seite
  • grobe Ausarbeitung der Charaktere
  • Handlung auf mehreren Seiten (Exposé)
  • feine Ausarbeitung der Charaktere
  • Szenenliste (mit Excel)
  • Szenenplanung
  • Schreiben

Und die Methode fordert explizit: Wenn man z.B. bei Schritt 6 feststellt, dass Schritt 4 nicht passt, muss man zu diesem Schritt zurückkehren und ihn anpassen.

 

Zentrale Punkte der Methode:

  • Sie wechselt immer zwischen Entwicklung der Handlung und Entwicklung der Figuren.
  • Sie legt dabei zuerst grobe Strukturen fest und verfeinert diese.

Man geht also stets von einer tragfähigen Struktur aus (ich habe eine Prämisse aus Schritt 1, also hat die Geschichte einen roten Faden; ich habe die Handlung in einem Absatz, d.h. ich habe eine tragfähige Gesamtstruktur, usw.) Wenn man später beim feineren Ausarbeiten auf eine neue abwegige Idee stößt (und das wird man), so kann man sie nur dann einbauen, wenn man vorher das tragfähige Gerüst drumherum wieder angepasst hat.

 

Was die Methode so mächtig macht, ist weniger die fraktale Geometrie, sondern ihre eingebaute Rekursivität, zum einen zwischen Handlung und Figuren, und dann zwischen der Grobstruktur und den Szenen, die sie aufbauen.

 

Um die Grobstruktur zu planen, verwende ich neben den meist geforderten Texten noch andere Instrumente: So achte ich auf eine Drei-Akt-Struktur mit den entsprechenden Plot-Punkten, außerdem passt auch meistens die Heldenreise von Campbell bzw. Vogler und selbstredend fülle ich Blake Snyders Beat Sheet aus. Wenn ich die Szenenliste erarbeite, dann werden die Szenen in den üblichen 4 Reihen angeordnet, und jede Reihe endet in einem Plot-Punkt. Man kann in seine persönliche Snowflake-Vorgehensweise jedes Hilfsmittel einbauen, das sich als nützlich erwiesen hat.

 

Plaudern wir noch etwas weiter über Schneeflocken.

 

Ein anderer schöner Punkt an der Schneeflocken-Analogie: Wenn man einen Blick auf das kompliziert erscheinende Muster der Schneeflocke wirft, sieht man nicht unbedingt sofort, welch einfache Struktur diesem Muster zugrundeliegt. Und so ist es auch bei einem komplexen Roman, mit vielen Figuren, verschiedenen Handlungsebenen, die zusammenspielen - hinter dem Ganzen verbirgt sich meist ein simples Konstruktionsmuster.

 

Allerdings kann man die Analogie noch ein wenig weiter treiben: Eine echte Schneeflocke sieht nicht wie die Kochsche Schneeflocke aus. Man sieht dem Koch-Muster seine Künstlichkeit an. Um echt zu wirken, braucht es Fehler und Brüche in der Struktur.

 

Aber: je größer die Fehler und Brüche und Abweichungen werden - irgendwann ist das Ganze dann halt keine Schneeflocke mehr. Seien wir ehrlich: Man braucht sich keine Sorgen zu machen, ob man die Struktur vielleicht zu perfekt geplant hat. Die Fehler und Brüche und Unsauberkeiten kommen beim letztendlichen Schreiben ganz von selbst.




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