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Tertium Datur


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#1 geronemo

geronemo

    Nochkeinnaut

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Geschrieben 13 November 2007 - 16:24

Den folgenden Artikel über P.K.Dick habe ich 2005 in einer Ausgabe der Literaturzeitschrift "die horen" veröffentlicht. Allerdings habe ich bis heute, wie üblich, kaum eine Reaktion darauf bekommen, weswegen ich den Artikel in dieses Forum stellen möchte. Ich hoffe, ach was, irgendwann wirds albern ständig und unverzagt auf was zu hoffen. Ab die PostGero ReimannSpezialfall Dick oderEin drittes Sein (tertium datur) in der FikturEverybody knows that Aristotelian logic is fucked P. K. Dick, ValisVorrede Mit der Verspätung von einer Generation scheint der amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick auf dem Umweg über Hollywood-Adaptionen seiner Romane und Erzählungen dort einzusickern, auch mit diesem Essay, wo ihm Zeit seines Lebens der Zugang versperrt war: in einer künstlich am Halbleben erhaltenen literarischen Öffentlichkeit außerhalb der Gemeinde der SF-Fans. Dort, wo sich Wolfgang Hildesheimer 1982 als Autor verabschiedet hatte mit der klaren Aussage: „Die Konstellationen des Romans haben sich erschöpft: es ist aus“.Eine Zeitschrift des Literaturbetriebs jenseits von Reich-Ranicky, „Literaturen“ vom Januar 2001, druckt einen Artikel zu Dick ab. Manfred Geier setzt sich in seinem Buch „Fake, Leben in künstlichen Welten“ von 1999 in einem Kapitel mit dem verfilmten Roman Blade Runner/Do Androids Dream of Electric Sheep? auseinander. In Kindlers Neuem Literatur-Lexikon befinden sich zwei Einträge zu Dick von Michael K. Iwoleit und bei Haffmans gab es einen „Raben“ mit großem Philip-K.-Dick-Sonderteil. Das Hollywood-Studiosystem, erprobt in der Produktion künstlicher Welten mit kurzer Verfallszeit kam schon früh dazu, das von ihm Produzierte in Frage zu stellen. James Steward verliebt sich in Hitchcocks Vertigo, Aus dem Reich der Toten in eine Tote, die nicht richtig tot ist; und im Tanz der toten Seelen/Carnival of Souls von Herk Harvey von 1962 stapft eine Tote durch die Spießerwelt der 50er Jahre und versteht nicht mehr, was mit ihr und der Welt geschieht.Jüngere Drehbuchautoren und Regisseure scheinen langsam zu verstehen, wie sich die Logik von Dicks Welten wirkungsvoll für den Film nutzen lässt. Pleasantville, Memento, Die Truman Story und viele andere verunsichern denjenigen, der die Dinge noch immer für das glaubt nehmen zu können, was sie vorgeben zu sein. Verfilmungen von Dicks Romanen und Erzählungen, das gilt meines Erachtens auch für den „Blade Runner“, machen Dick kommensurabler als ist. Ein Film wie Being John Malkovich scheint dagegen verspielt und witzig Wesentliches von Dicks Pluriversum auf komische Weise, Cronenbergs Videodrome auf eher finstere eigenständig weiter zu entwickeln. Arnold Schwarzenegger hingegen als ein Protagonist in einer seiner Welten (Total Recall) hätte Dick wahrscheinlich schon zu Lebzeiten aus Kalifornien vertrieben.Dabei ist die Frage nach dem, was wir für real halten, nicht neu. Bereits Don Quijote harrt nachts in seinen eigenen Exkrementen aus, gebannt aus Angst vor dem Gerumpel gewaltiger Feinde, die sich am Morgen als eine mechanische Walkmühle herausstellen, gleichsam eine Vorahnung kommender industrieller Entäußerungen menschlichen Erfindungsgeistes. Mit dem Aufkommen der Technik verändert sich die Welt und unsere Wahrnehmung derselben erheblich.Denjenigen, die noch nicht im Hyperraum der Neuen Medien verschwunden sind und in der handfesten alten Gutenberg-Galaxis der Bücher sich in fiktive Welten hineinlesen, wird heute ein besserer Zugang zu Dicks Werken ermöglicht als zu Lebzeiten des Autors. Dies nicht etwa, weil Dicks Science-Fiction-Welten verständlicher geworden wären, eher deswegen, weil die Realität sich zunehmend mehr „verdickt“ hat. Das in den 60ern des letzten Jahrhunderts in den USA aus den Pulps (Groschenheften) sich emanzipierende Taschenbuch-Genre der Science Fiction hat inzwischen in Einigem seine aufklärerischen und spielerischen Impulse, nämlich das anschauliche Nachdenken über das, was unsere eigenen Erfindungen und Technologien mit uns anstellen, im Cyberspace der Beliebigkeiten oder im eskapistischen Dämmer der Fantasy verloren, woran das Verwesungsprodukt der 68er, die Grünen, fleißig mitgehäkelt haben zwecks Dämonisierung von Wissenschaft und Technik zum Heil der Birkenstocksandale. In der BRD erscheinen seit kurzem Dicks Werke in einer von den schaurig schundigen Titelbildern sowie von den gröbsten Übersetzungsfehlern befreiten Edition bei Heyne, die Sascha Mamczak betreut. Innerhalb der Science Fiction ist Dick bereits eine Generation nach seinem Tod ein herausragender Spezialfall. Grundlegende Studien über sein ungewöhnliches Leben 1) und sein umfangreiches Werk 2) liegen inzwischen vor, so dass ich mich in diesem Essay auf weiterführende Gedanken zu Dick für die Gegenwart konzentrieren werde, um herauszufinden, warum die Faszination an seinem Werk zugenommen hat. Dicks raffinierten Erzählstrategien und der Vielfalt seiner Welten bin ich als Einzelner nicht gewachsen, weswegen es mir ratsam erscheint, mich in drei Personen aufzuspalten (ein von Dick und Gotthard Günther übernommenes Verfahren):†¢ Als Autor (Crap Artist), gewissermaßen als in der Fiktur auf die Welt Einwirkender, der von Dick in den frühen Achtzigern angeregt wurde selbst einiges im Bereich der Science Fiction und zu Dick zu veröffentlichen 3) und von Bekannten dazu gedrängt, einen seiner Mainstream-Romane zu übersetzen 4), werde ich erstens näher auf einige gesellschaftliche Veränderungen im Umgang mit kulturellen Gütern eingehen und darauf hinweisen, dass es Dick in den künstlich-kitschigen SF-Welten gelungen ist dem allgemeinen Verblödungszusammenhang zwar nicht zu entkommen, seine Abgründe aber recht effektiv auszuloten†¢ Als älter gewordener, ehemals militanter 68er möchte ich zweitens einige wenige Überlegungen dazu anstellen, warum von meiner Generation, die so radikal in Szene zu setzen sich verstand, außer einigen schlechten Politikdarstellern und viel Kursbuch-Gelaber so wenig geblieben ist, während Dicks beste Werke heute noch so frisch und geistig anregend sind wie sie den 68ern 68 abgedreht erschienen†¢ Als noch unterrichtender Philosophielehrer werde ich drittens versuchen mit Hilfe zweier Philosophen, die von den ehemaligen 68ern auf den Lehrstühlen ähnlich gemieden werden wie Dick von den meisten Betriebs-Literaten, nachzuweisen, dass Dicks praktisches Konzept von Subjektivität wahrhaft zukunftsweisend sein könnte.Für sie ist Realität, was für wirkliche Menschen Fiktion ist. (†¦) Wie einer von ihnen sagt: †šFiktive Personen haben Visionen vom wirklichen Leben - sie träumen die Realität, und damit sind sie verloren.†™ Ich sollte hinzufügen: auch der Autor ist verlorenFelipe Alfau, Das Café der Verrückten1. Die Wirklichkeit verschwindetIm Nachwort zu meinem umfangreicheren Essay über Dick vom Frühjahr 1982 5) beschrieb ich, wie ich als Jugendlicher der Welt abhanden kam und über die Literatur der Moderne (Rimbaud, Proust, Joyce, Jahnn und andere) und den Schund (Silber Western, Jerry Cotton und Terra Astra) im Reich der Fiktionen (der Fiktur) heimischer wurde als dem der Fakten. Ich las wahllos Schwieriges und Triviales, ohne dass mir eine gefügige Vernunft mit gut fundierten Kriterien die Auswahl erleichtert hätte. Wichtig war mir: leidenschaftliche Ehrlichkeit eines an seiner eigenen Identität zweifelnden Einzelnen angesichts einer labyrinthischen, bedrohlichen und undurchschaubaren Welt. Eine Haltung, die angesichts der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels und der Verbrechen der Elterngeneration von Heute aus gesehen verständlich erscheinen mag.Auf Grund des Modernisierungsschubs, der die westlichen kapitalistischen Länder in den 60ern erfasste und die verlogene Kalte Kriegs-Welt der 50er wegätzte, zeigte sich bald, wo die Entwicklung hinging: Anstelle des dem Bildungsbürger Prestige verleihenden Kulturguts oder dem schundigen Ersatz für die weniger Bildungsbeflissenen drang zu den Jugendlichen eine neue Haltung aus den elektrischen Geräten und Reproduktionsmaschinen. Die Technik griff ihnen gewissermaßen direkt ins Gemächt. Die Vergewisserung der je eigenen Identität löste sich bei denen, die aus Begeisterung über den „Rock†™nRoll“ Kinosäle zertrümmerten, von familiärer Herkunft und sozialem Status. Dem neuen Lebensgefühl wurde Ausdruck gegeben durch den Konsum von Waren der Kulturindustrie, die nach dem Beispiel der Hollywood-Produktionen weltweit vermarktet wurden. Rock als Verwertung des Blues, Elvis statt Fred Bertelmann, Jeans statt Bleyle-Hosen. Als Befreiung wirkte das auf uns damals von dem völkischen Brei, aber auch von dem aus den Kellern aufsteigenden Gejammere der Existentialisten. In einer anderen großen Umbruchszeit, Jahrhunderte zuvor, wurden von den beiden Satirikern Swift und Rabelais unbändig und ungebärdig die damaligen Ordnungen hinwegfegt, um Platz zu schaffen für Neues. Dabei kam es zu eigenartigen Konstellationen. Ein Seemann aus Nottinghamshire trifft auf sprechende Pferde, die sich Houyhnhnms nennen und wie Bertrand Russel sprechen. Er fragt sich, ob sie nicht bessere Menschen seien als er. Rabelais philosophiert seitenlang über den Arschwisch. Ähnlich nicht Zusammen- bzw überhaupt nicht gehöriges findet sich durchgängig in Dicks Werk in den 60ern: sprechende Geräte, Maschinen, die menschlicher sind als Menschen, Koffer als transportable Psychiater, Roboter, die von elektrischen Schafen träumen, Halblebende, die sich der Lebenden bemächtigen, Waren, die ständigen Metamorphosen unterzogen werden. Kaum drehst du dich einmal um, hat sich dieser Artikel schon in etwas anderes verwandelt. Mittel, die den Rückbildungsprozess umkehren sollten, bilden sich selbst zurück. Nur UBIK schafft hier grundlegend Abhilfe! Greifen Sie zu, solange Sie noch was zum Greifen haben. Inzwischen hat der Wahn der zu sich kommenden Dinge ja bereits das Fernsehen weitgehend enthumanisiert. Dicks Blick ist bitter, ist ein anderer, witzigerer, bösartigerer Blick auf die verrückte Welt, als der konservativ-reaktionäre, der aus Angst vor der Modernität der Welt mit dem Förster vom Silberwald und anderen lustigen Volksmasturbanten dem Murmeln der Murmeltiere auf den Holzwegen nachsinnt, in die geworfen sein sollte das Sein des Seienden. In seinem scharfsichtigen Buch „Von Pope zu Pop, Kunst im Zeitalter von Xerox“ von 1968 schrieb der amerikanische Literaturwissenschafter Hugh Kenner: „Heutzutage stecken wir tief in Fälschung und Nachahmung, und es ist lange her, dass wir ausgemachte Kriterien besaßen, was †šwirklich†™ ist.“ 6) Zu diesem Zeitpunkt war William Gaddis Roman Recognitions/Die Fälschung der Welt (erschienen 1955) bereits wieder vom Markt verschwunden. Die Kritik hatte das Positive vermisst, und Gaddis musste für Industrie und Militär arbeiten. (Auf ähnliches Unverständnis stießen in den 70ern und 80ern bei Großkritikern in der BRD die wunderbaren Romane Ernst Augustins, in denen das Problem mit den Wirklichkeiten subtil thematisiert wurde. 7))1959 war von demjenigen, der „Alice im Wunderland“ ins Russische übersetzt hatte in Amerika ein „Roman“ erschienen, der eine ähnliche Problematik behandelt wie Dicks Werke: Was ist real? Was ist menschlich? Was geht hier vor sich? In Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung findet sich, ebenso wie in Flann O†™Brians bereits 1939 erschienenem, aber erst 1960 von der literarischen Öffentlichkeit wahrgenommenen Roman „At Swim two Birds/In Schwimmen - Zwei Vögel“ eine Bauanleitung für das, was Dick im Rahmen der SF betreibt. Ein anschaulich inszeniertes Spiel mit der Logik der künstlichen Welten, die nicht mehr diejenige des Aristoteles ist, wie weiter unten noch ausgeführt wird.Das Problem, dass die Wirklichkeit fragwürdig geworden war, konnte auch mit dem Gefühl des angeblich authentischen Erlebens in der aufkommenden Erlebnisgesellschaft nicht aus der Welt geschafft werden. Und wenn Leute heute mehr Blech im Gesicht haben, als an ihren Handys, zu deren Servomechanismen sie längst wurden, dann ist auch das ein Indiz dafür, dass der Zweifel am Bestehenden sich nicht beschwichtigen lassen sollte, dass hier etwas grundlegend nicht mehr stimmt. Neue Technologien veränderten den Standort der Künste irreversibel, auch wenn Leute wie Grass und Walser das nicht mehr mitbekommen werden. Die Beschäftigung mit den Auswirkungen der Ergebnisse der exakten Wissenschaften, den neuen und den möglichen Technologien (angestoßen durch die große Bombe) fand in den 50ern und 60er in der amerikanischen SF-Literatur statt, während die einst rebellische Moderne, längst ihre Wirkung im Museum verloren hatte, und dort abstank wie das Pissoir von Duchamp oder die Dose mit Human Shit. Adorno, der die „science fiction“ 1970 als „stoffgläubige“ und deshalb „ohnmächtige“ und „unterkünstlerische Gattung“ 8) aburteilte, deren Formgesetze er wohl ebenso wenig kannte oder verkannte wie die des Jazz, muss dennoch der „neuen Kunst“ gegenüber zugeben: „Dafür, dass zu einer Stunde, da amerikanische Hotels mit abstrakten Gemälden †¦.ausstaffiert sind, der ästhetische Radikalismus gesellschaftlich nicht zuviel kostet, hat er zu zahlen: er ist gar nicht mehr radikal. Unter den Gefahren neuer Kunst ist die ärgste die des Gefahrlosen.“ 9)Stellvertretend für auratische Kunstwerke tauchen in Dicks Romanen von Frauen handgefertigte Töpfe auf. Töpfe sind leere Behälter, die die unterschiedlichsten Inhalte aufnehmen könnten, die aber, wie in „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ sofort in miniaturisierter Form in die Layouts eingehen, mit denen sich die Kolonisten auf öden Planeten in grauenvollen Erdkuhlen mit Hilfe von Drogen in eine Welt versetzen, die der der Barbie-Puppen nachempfunden ist. Authentische Gefäße, denen der Prozess ihrer Herstellung noch anzusehen wäre, verschwinden als Requisiten einer gefälschten Welt. Wir benutzen heute die Fernsehgefäße. Ein Romanautor konstruiert (das ist ein rationales Element) eine fiktive Welt aus Bestandteilen der „wirklichen“. Das funktioniert allerdings nur solange problemlos, wie noch klar sich unterscheiden lässt, was real und was fiktiv ist. Dem war und ist aber seit langem nicht mehr so. Eine im Zwischenreich von Fiktur und Faktur angesiedelte Lebenswelt gehorcht anderen Gesetzen als den viktorianischen von Jane Austen. Ein Roman als Simulation der erfahrbaren Welt, beschrieben aus der Zentralperspektive des omnipotenten Erzählers gleichsam als Verkörperung eines transzendentalen Ichs gegenüber der Welt der Dinge, in dem Helden herumstapfen und sich in Beziehungen verstricken und glaubhaft was Identisches zu verkörpern sich bemühen ist in erster Linie ein Mahnmahl über das Beharrungsvermögen überholter literarischer Formen auf dem Markt, auch wenn derartiges mit Nobelpreisen belohnt wird. Jede Figur in einem Roman, die nicht über ihren Schöpfer, den Autor, und das Wesen der gefälschten Erfahrungen reflektiert ist tot, ein Ding, nicht anders als eine Teekanne. Ähnlich wie der Realismus in den bildenden Künsten, ist die puritanische Selbstbeschränkung in der Fiktur, dem grenzenlosen Reich des Möglichen, eine Verarmung sondergleichen, eine Ausnahme. In den Märchen und in den Abenteuergeschichten war das immer schon anders. Auf Grund der unglaubwürdigen Kulissen, ist es nicht schwer, herauszubekommen, dass wir alle etwa im Kopf von John Malkovich oder Philip K. Dick stecken. Erst am Nullpunkt, jenseits des Realistischen und Symbolischen dringt, wie etwa bei Beckett „eine zweite Welt von Bildern hervor, so trist wie reich, Konzentrat geschichtlicher Erfahrungen, die in ihrer Unmittelbarkeit ans Entscheidende, die Aushöhlung von Subjekt und Realität nicht heranreichten. “10) In Palmer Eldritch findet sich Leo Bulero auf einer leeren Ebene wieder, auf der der Schöpfer derselben als kleines Mädchen neben einem Psychiater-Koffer hockt. Sonst gibt es nur Wesen aus einer anderen Welt, so genannte Klucken, die einen aussaugen wollen. Nach einer Diskussion über Substanz, Akzidenz und Transsubstiation, erklärt ihm das Mädchen Monica/Palmer Eldritch die Welt (als Fiktur): „Was Sie erschaffen haben, können Sie jederzeit auch wieder eliminieren“, entgegnete das Kind gleichgültig. „Falls es Ihnen nicht gefällt. Und wenn es Ihnen gefällt“ - sie zuckte die Achseln -, behalten Sie es eben. Was spricht dagegen? Wem soll es schaden? Schließlich sind Sie allein in Ihrer...“ Sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund.„Allein“, sagte Leo. „Wollen Sie damit sagen, jeder landet in seiner eigenen subjektiven Welt. Und nicht in einem gemeinsamen Universum?“ 11) Wobei sich Leos Situation auch nicht grundlegend ändert, nachdem er Monica erwürgt hat.Heute so zu tun, als ließe sich die Realität, was wir glauben, dafür zu halten, einfach so „realistisch“ abschildern ist künstlerisch naiv - verkauft sich aber gut. Die Mehrheit der Kulturkonsumenten fordert unerbittlich das Positive (als Ersatz für das je eigene Elend), was sich an der Anordnung der Bücher in den Regalen eines beliebigen Buchwarenhauses erkennen lässt. Krimis, historische Romane, Liebes- und Frauenromane, Romane hier, Romane dort, tonnenweise Belletristik und anderswie Gepilchertes, Stoff der aufreizend kurz betäubt, aber hinterher ein Loch lässt, in das weiterer gestopft werden muss. Je größer das Loch, desto mächtiger die Stapel der Stopfbücher. Dick allerdings steht weiter hinten, beim Trivialen, der Fantasy und SF, vor den wenigen Klassikern, die inzwischen in den ersten Stock abgeschoben wurden, ersetzt durch die Bücher in Großdruck für die Älteren, deren immer mehr werden. Die Philosophie hat inzwischen vor dem esoterischen und religiösen Krempel sich in eine winzige Ecke verkrochen.Kurz, bei den Käufern steht das Positive und die Herstellung, Erhaltung und Bestätigung des Bestehenden unentwegt in der ersten Reihe. Wohl deswegen, weil das Bestehende es immer nötiger hat. Literarisch wird Positives vermittelt über Identifizierung mit Verlogenem oder Erwünschtem. Diese Art von künstlichem, handwerklich zumeist solidem Realismus aus dem 19. Jahrhundert, als das Bürgertum sich noch mit sich identisch fühlte, hat allerdings mit der Realität nichts mehr zu tun, die findet sich eher bei Dick oder in einigen Episoden des Raumschiffes Enterprise. Im Moment sind beim Betrieb Bücher angesagt, in denen Leute wie Grass, Walser und andere versiert „Vergangenheit aufarbeiten“ und davon erzählen, wie die Deutschen mählich zu Opfern mutieren, während die Bundeswehr sich umrüstet für weltweite Kampfeinsätze und die verarmenden Teile der Bevölkerung ausgepresst werden bis zum Erbrechen. Gepusht wird auch der mit Methoden des Marketings inszenierte Firlefanz von unausgereiften Berufsjugendlichen aus den Pop-Szenen. „Wenn jeder das Spiel auf dem kulturellen Markt mitspielt, wird, aus Mangel an Alternativen, der Ersatz zur Realität.“ 12)Wer „UBIK“ von Dick gelesen hat, stößt vor jedem Kaptitel auf einen Werbespot für UBIK. Jeder endet mit einer Mahnung, dass UBIK nur bei einer vorschriftsmäßigen Anwendung ungefährlich sei. Auch für den Leser des Romans dürfte das gelten. Demnach gibt es UBIK als: geräuschloses Elektro-UBIK, Nummer eins unter den Bieren, Instant-Kaffee, Dressing, Leber-Elixier und Mittel gegen Kopf- und Magenbeschwerden und so weiter. Und spät im Roman greift der arg gebeutelte und immer tiefer in der Vergangenheit versinkende Protagonist Joe Chip (Dick) zu einer Spraydose mit UBIK, um sich am Verschwinden aus der Unwirklichkeit des Romans zu hindern. Ubiquitär bedeutet laut Fremdwörterduden „überall verbreitet“.Noch Fragen? Wenden Sie sich, wenn Ihnen diese Dosis UBIK nicht gefällt an Seelsorger Fliege. Er wird Sie bei Gott mit neuem Stoff versorgen.Alles ist haschen im Wind Der Koholet2. Schlechte Politik als schlechter Ersatz für die verschwundene Wirklichkeit Warum haben die 68 versagt und was hat das mit Dick zu tun? Da die Achse der Realität allein durch Orte des Ichs verläuft und in den Kontext konkreter Erfahrungen eingebettet sein sollte, lässt sich die Frage vor allem persönlich beantworten. Auf Dick stieß ich zu einem Zeitpunkt, als ich nach dem Studium in einer linksradikalen Kaderpartei im Raum Mainz/Wiesbaden/Frankfurt mich bis zum physischen Zusammenbruch abrackerte für die gewaltsame Revolution. Als Meister im Sich-Selbst-Belügen, unklar die eigenen Motive, unklar die Zielsetzung - musste dem Revolutions-Simulanten die Rebellion fürchterlich in die Hose gehen. Tagsüber Arbeit am Fließband, in der Fabrik bei IBM, nachts häufig Zellensitzungen, in der Frühe, noch vor der Arbeit, Flugblattverteilen bei Opel Rüsselsheim und an den Wochenenden Demos und Aktionen. Dick-Lektüre hätte für mich tabu sein müssen, gehörte er doch, gemäß dem Sprachgebrauch der Partei zur strikt zu verurteilenden „Hasch-Pop und Porno-Kultur“ (HaPoPo), dem Übel schlechthin für Brisk-Frisierte militante Stalinisten. Zudem waren die Helden seiner Bücher fast immer kleinere Angestellte, gehörten also zu jener Kategorie von Menschen, die gemäß der korrekten Klassenanalyse, dem Kleinbürgertum zuzurechnen waren, dem Bodensatz allen Übels, dem wir durch Klassenverrat vergeblich zu entkommen suchten. Dennoch will mir scheinen, dass das Herumtappen von Dicks Helden in Welten, die sich zunehmend entwirklichten, meiner damaligen politischen Praxis in Vielem entsprach, die darauf hinauslief, die eigene Welt und Vergangenheit mit den Dogmen der einen reinen Lehre zum Verschwinden zu bringen. Mit politischen und ästhetischen Ordnungsmustern der traditionellen Art ist Dick nicht beizukommen. Wenn es Not tat, und es tat gelegentlich Not, scheute er sich nicht, mit amerikanischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten, aus Angst vor der weltweiten Verschwörung gegen ihn. Psychisch war er nicht immer so stabil wie Uschi Glas. Wie den meisten vom Empirismus und Pragmatismus genährten Amerikanern war ihm ein heilsgeschichtlicher Kommunismus ein Rätsel. Anstelle mit Hilfe des korrekten Marxismus-Leninismus konstruierte er lieber seine Romane mit Hilfe des I-Ging. Versatzstücke aller möglichen und unmöglichen esoterischen und verschwurbelten Theorien, Amphetamine bis zum Exzess, das Haus voller Drogis, Katzen, fünf Ehen, Schlaganfälle, Einbrüche †¦. wie konnte der Mann dabei noch das unentwegt vollbringen, was ihm das Wichtigste war: „Was mir wichtig ist, ist das Schreiben, der Akt der Romanverfertigung, denn während ich dabei bin, in dem Moment bin ich in der Welt, über die ich schreibe. Sie ist für mich durch und durch real. Dann, wenn ich fertig bin und aufhören muß, mich von dieser Welt verabschieden muß, bin ich wie am Boden zerstört.“ 13) In jene bewegten Jahren schafften es Dick und andere Autoren, mich wieder in die Fiktur zurückzuholen. Die Welt wurde wieder schillernd und unergründlich und so verlöschte mählich das Leuchtfeuer des Sozialismus in Europa. Die einfache Relation zwischen Sein und Bewusstsein erwies sich als alles andere als einfach. Wie der Protagonist in „Der dunkle Schirm/A Scanner Darkly“, saß ich beim Lesen gleichsam in einem Tarnanzug neben mir und beobachtete mich selbst beim Lesen in einem Tarnanzug solange, bis ich mich bei der Landesleitung hätte anzeigen müssen wegen illegaler Beschäftigung mit verbotenen Drogen. Dick, erkannte ich, ist ein Solitär, eine Singularität in der Trivial-Literatur des 20ten Jahrhunderts und als solcher wird er noch gelesen werden, wenn keiner mehr weiß, dass 1972, als A Scanner Darkly erschien, aus dem Hause Suhrkamp die Werberichtlinie kolportiert wurde: Es dürfe wieder erzählt werden. 1968 sei vorbei. Noch mal, was Dick völlig fehlt, und das macht nicht ein Geringes beim Lesen seiner Bücher aus, ist prätentiöses literarisches Gehabe und politische Besserwisserei, diese erschlichene Souveränität des „geborenen Erzählers“, der, woher bloß, alles über seine Figuren weiß. Dick jedenfalls ist distanzlos im Inneren seiner SF-Kullissenwelt-Romane am Ringen mit Gott, der Welt, sich selbst und seinen Figuren. Das vergnätzt jeden süchtigen Romanverschlinger immens, weswegen Dick auch nie populär werden wird und die Verfilmungen hinter seinen Texten zurückfallen.Hier sei es den politisch Korrekten reingedrückt: Dick ist weder Psychotiker, Schizo, Paranoiker, Existenzialist, Gnostiker, Drogi, grüner Minister in Bonn oder sonst was - wobei er einiges davon ausprobierte. Er ist ein vom Schreiben besessener Autor. Was für einer, muss jeder und jede selbst herausfinden, denn, wie es in einer Operette aus dem Jahre 1878 bereits heißt: „Things are seldom what they seem, skim milk masquerades as cream.“ (Inzwischen von Rama auf dem Markt präsent)Nun wird der Unterschied von Mensch und Maschine gewöhnlich darin gesehen, dass der Mensch zur Selbstprogrammierung (Freiheit), die Maschine aber nur zur Hetero-Programmierung fähig ist. Es hat sich aber gezeigt, dass diese Unterscheidung hinfällig ist.Gotthard Günther 3. Auf einem dritten Weg in die FikturDick ist sowenig Philosoph, wie er nur Erfinder von kollabierenden Welten und originellen Personen oder sonst ein Ding ist. Seine Texte ergeben mehr Dick und mehr Welt als unsere Fernsehprogramme vermuten lassen, weswegen es angemessen erscheint, die beiden grundlegenden Fragen, die wir formulieren, um mit uns und der Welt klarzukommen, zu stellen: Wer bin ich? und Was ist die Welt? Bis in die Gegenwart hinein werden immer nur diese beiden Fragen gestellt, von Philosophen und denjenigen, die mit einem Brummschädel morgens in die Welt gerissen werden. Wenn es nur mich und die Welt gäbe, wie könnte ich mich dann einem anderen mitteilen? Wie wäre es möglich, sich zu verständigen, wenn jemand wirklich was anderes sähe als ich? Das ist Dick als einsamen Nachtarbeiter recht früh schon klar geworden: „Wenn die Wirklichkeit von Person zu Person eine andere ist, kann man dann noch von Wirklichkeit im Singular reden, oder sollten wir nicht besser von Wirklichkeiten im Plural sprechen (...) Das Problem liegt also darin, dass bei einem zu großen Auseinanderklaffen der Erlebnisweisen der subjektiven Welten die Kommunikation zusammenbricht†¦ und das ist das eigentliche Leiden.“ 14)Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Gott und Welt, die Dualismen und Dichotomien ließen sich endlos verlängern. Hinzu kommt noch, wenn wir wie Dick davon ausgehen, dass die phänomenale Welt der Fiktur nur aus Information besteht, die Frage: Wer bist Du? Bist Du so wie ich, ein Ich, oder bist Du ein Ding, ein Android, ein Cyborg, ein Wabbelmonster von Alpha Centauri oder eine sprechende Teekanne oder alles zugleich und wie kömmt es, dass wir uns verständigen können, dass wir Dicks Welten zwar nachempfinden können, aber dennoch häufig nicht kapieren, was das Ganze soll?Die in seiner Art präziseste Bauanleitung zur Erfindung von menschenähnlichen Wesen in der Fiktur findet sich in Kafkas kleinem Text „Die Sorgen des Hausvaters“. Dort stoßen wir auf ähnliche Verdachtsmomente in Bezug auf ein sonderbares Wesen, das aus einem Wort ungenauer Herkunft (Odradek) in der Fiktur zu sich kommt und seinem Schöpfer Sorgen bereitet: „†¦ das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.“ 15) Die abendländische Philosophie kennt bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur eine zweiwertige Logik die auf der Beziehung zwischen demjenigen, der erkennt (Subjekt) und demjenigen, das erkannt wird (Objekt) sich gründet. Bestimmungen treten bejahend oder verneinend auf. Aufgezeichnet wurden die Axiome dieser Logik von Aristoteles als Satz der Identität, Satz vom Widerspruch, Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) und ergänzt von Leibnitz um den Satz vom zureichenden Grund. Um als normaler Alltagsbenutzer zu kapieren, wieweit unsere Welt, unsere Technik, die Dinge und wir selbst und die anderen nur als Reduzierte auf dieser reduzierten Logik beruhen, die dennoch ausreichte, um uns zu verdinglichen und das Sein zu vergeistigen, möchte ich darauf hinweisen, dass etwa eine dreiwertige Logik für die Negation einen dritten Wert aufweisen kann, einen vierten und so weiter. Ähnliches leistet das Du als dritter Wert gegenüber dem Ich und dem Es (der Welt). Dabei lässt es sich nicht vermeiden, einige Gedanken von Gotthard Günther hier anzuführen.Gotthard Günther (GG)? Bisher konnte mir auch ein Philosophieprofessor nicht hinreichend erklären, wieso dieser GG - wie er mir versicherte, ein durchaus seriöser Philosoph - zwar in Heynes Lexikon der Science Fiction Literatur auftaucht, nicht aber in einer der vielen neueren Philosophiegeschichten und Einführungen in die Logik oder die Probleme der modernen Philosophie. Liegt es daran, dass GG in einem Aufsatz von 1968 Habermas (den das Rechtschreibprogramm partout zum Mass allen Habers machen möchte) Zur Logik der Sozialwissenschaften einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte? GG (geb. 1900) verließ 1937 Deutschland und lehrte später (über Kybernetik und mehrwertige Logik) an der Universität von Urbana, Illinois zusammen mit Heinz von Foerster. Er versuchte bereits 1952 in Deutschland die SF publik zu machen mit der Herausgabe von „Rauchs Weltraum Büchern“, was allerdings keinen größeren Erfolg zeitigte. In seinem grundlegenden Werk Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik versucht er die im Nihilismus und Existentialismus endende Sackgasse, in der sich das transzendentale Subjekt des deutschen Idealismus verfangen hatte mit Hilfe einer transklassischen mehrwertigen Logik zu überwinden: „Fehlt aber das universale Subjekt als Garant allgemeiner Subjektivität, dann sind wir nicht mehr berechtigt, von dem Ich-Charakter des denkenden Subjekts auf den Ich-Charakter des gedachten Subjekts zu schließen. D.h. für jedes jeweilig denkende Ich ist jedes andere Ich nicht als Ich, sondern ausschließlich als Du (als Objekt in der Welt) gegeben. Zwei beliebige Iche sind einander niemals logisch äquivalent, da im logischen System das eine immer das denkende, das andere das gedachte sein muß. †¦“ 16) Das entspricht in etwa dem, was sich Dick in obigem Zitat bereits fragte. Vielmehr ist „Subjektivität nicht auf ein einzelnes Subjekt beschränkt, sondern verteilt sich auf viele Subjekte, die wechselweise sowohl in der Funktion des Ich, als auch der des Du aufscheinen können.“ 17) Damit ist die Selbstvergewisserung des cartesianischen Cogito weg vom Fenster, denn „die Anerkenntnis der Subjektivität des Anderen ergibt sich aus der Unmöglichkeit, sich seiner eigenen Subjektivität ohne diese Anerkenntnis selbst gewiß zu werden. †¦18) Die einfache Dualität von Subjekt und Objekt verändert sich in eine Dreiheit von subjektivem Subjekt, objektivem Subjekt und Objekt.Das führt dann dazu, dass, wie in Dicks „Der dunkle Schirm, A Scanner Darkly“ der Beobachter, der sich als ein Objekt beobachtet, durch einen zweiten Beobachter selbst zum Beobachtungs-Objekt werden kann. Damit ist die einfache Dualität von Autor und beschriebener Person/Welt aufgebrochen.Ein weiteres Beispiel um den Grundgedanken einer mehrwertigen Logik auch formal oberlehrerhaft etwas zu verdeutlichen:Die Rose ist rot oder sie ist nicht rot. Nach der klassischen Logik gibt es gegenüber dem Rot nur die totale Negation, eben nicht-rot. (Sein oder Nichtsein und nichts anderes, wahr oder falsch und nichts anderes, Leben oder Tod) Nicht rot ist allerdings, im Unterschied zum empirisch erfahrbaren (mit der roten Brille auf der Nase) positiven Rot offen für weitere Seinsbestimmungen, worauf sich Reflexion gründet, etwa weiß oder gelb - und wenn wir die Farbenwelt verlassen mittels unseres Reflexionsprozesses, haben wir die Freiheit andere Seinsbestimmungen hinzuzufügen. Nicht rot könnte weiter spezifiziert werden in dornig oder nicht dornig, von Dick oder nicht von Dick und so weiter. „Was dem klassischen Denken allein zugänglich ist, ist das vollkommen Gegenständliche, das ganz mit sich selbst identische Objekt (†¦) das in sich ruhende, von der Reflexion unabhängige Daseinsidentität ist. Es kann keine „Widersprüche“ enthalten, wie sie die Reflexion, die um dasselbe herumspielt, besitzt. (..) Ein Versuch, das Wesen der Subjektivität im Denken adäquat und nicht fremd-thematisch (nur in Bezug auf das Sein, d. Verf.) zu erfassen, würde also eine radikale Abwendung von den objektiv-identitätstheoretischen Formen der Reflexion erfordern.“ 19)Dick ist der Autor, der so konsequent wie kein anderer einen dritten Weg jenseits der zweiwertigen aristotelischen Logik, die in seinen Augen „fucked“ ist, in seinen SF-Welten beschritten hat, bei dem der unversöhnliche Gegensatz von Sein und Ich, von Leben und Tod anschaulich formuliert wird: Tertium datur. Ein Drittes ist möglich. Bei ihm landen wir schließlich bei dem, was ich in der Anwendung der Gedanken Günthers die Logik der Fiktur nennen möchte. Das Abenteuer des Denkens über das Wesen von dem Ich, das denkt und der Welt, die ich mir ausdenke, wird zu einem höllischen Trip, dessen Sinn nur schwer zu vermitteln ist. „Nun besteht aber zwischen einem Bewusstsein, das keine echten Objekte besitzt, denen das Thema „Sein“ wahr ist (das also Gegenstände nur träumt) (oder, wie bei Romanfiguren bei Dick, die über die Wahrheit ihres Seins in der Fiktur ständig reflektieren und darunter leiden, d. Verf.), und einem solchen, das sich objektiv mit sich selbst identischen Dingen gegenübersieht, noch ein Spezialfall (Hervorhebung, d. Verf.), nämlich der einer Wirklichkeit, die nur ein Individuum erhält.“20) Dick sagt von sich, er sei der Roman, wenn er schreibt, und er sei zugleich wirklich in der Romanwelt, wobei er sich, wie in „Valis“, in mehrere Figuren aufspaltet. Was generiert wird, ist eine Welt, in der kein wesentlicher Unterschied zwischen Sein und Nichtsein besteht. Das ist aber für den Leser, insofern er sich im Labyrinth der Fiktur eines Dick Romans verliert, in der ja Raum und Zeit, Kausalität und andere Formen der Anschauung a priori nach Kant, also alle bestimmten Festigkeiten des „Realen“ sich in Mehrwertigkeiten auflösen können, die Norm. Weswegen die Fiktur nur schwer zu ertragen ist, weil in ihr alles möglich ist und nur mit Hilfe einer dritten Instanz nach dem Autor und dem Text Sinn zustande kommen kann, dem Du, dem Leser. „In der kontigenten Welt, in der wir leben, sind Individuen´(Objekte) immer empirisch Seiendes, und Sein-überhaupt ist nur das formale Thema, also der Sinn, vermittels dessen wir diese Objekte denken. In einem Universum aber, das nur ein einziges Individuum enthielte, wäre diese Differenz derart aufgehoben, dass das Sein überhaupt das einzige Individuum wäre.“ 21) Das man früher häufig „Gott“ nannte. Logisch nahe liegt die Vergleichbarkeit des Romanautors als Schöpfer/Demiurgen von Allem, der mit allem, von dem geschrieben steht, identisch ist. Im Roman ist aber letztlich alles, was geschildert wird, Menschen und Dinge, Emanation eines einzigen Bewusstseins innerhalb einer historisch konkreten Situation, was allerdings, wie in „Valis“, für einen unkritischen Leser leicht als durchgeknallter Mystizismus erscheinen kann. Auch die mystische Gegenwärtigkeit des Absoluten im Zustand der Entrückung (der religiösen Einswerdung) oder des Samadhi, für jede Form bisheriger Rationalität unbegreiflich, ließe sich mit Hilfe einer mehrwertigen Logik rational angehen. Vielleicht von daher die unbewusste Angst vor der Technikphilosophie GGs und auch das Zurückschaudern vor „Valis“ von Seiten der SF-Fans, denen Dick hier zu sehr ins Religiöse abdriftet. (Ähnlich der künstlichen Existenz in der selbst geschaffenen Fiktur, ist Kern des religiösen Empfindens die private Erfassung einer übergreifenden „Wirklichkeit“, die womöglich aus einem Oberbewusstsein [es muss ja nicht alles, was nicht bewusst ist, unten sein] emotional angereichert wird. Interessant wäre es, William James religionsphilosophische Ansätze an Dicks Valis-Trilogie zu erproben.)Bürgerliche Subjektivität radikalisiert von Descartes und Hume treibt den Zweifel an der Welt der Erscheinungen derart weit, dass zuletzt selbst die eigenen Vorstellungen, das eigenen Bewusstsein, die eigenen Gefühle fragwürdig werden mussten. Das autonome Individuum in seiner ganzen transzendentalen Pracht, grad erst zu sich gekommen, muss mählich feststellen, dass die Welt sich als Chimäre, als Drogentrip, als schlechter Hollywood-Film, als Star-Trek-Episode oder Werbe-Spot verdünnerisiert hat. Der Zusammenhang zwischen einer sich immer mehr fiktionalisierenden Wirklichkeit und den daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Kunst, veranlasste den scharfsinnigen Odo Marquard 1989 in seinem Aufsatz „Kunst als Antifiktion“ die Frage aufzuwerfen, ob das Wirkliche und das Fiktive noch wirklich einen Gegensatz abgeben, oder ob der Gegensatz bereits selber ein fiktiver geworden sei, und er kommt zu der erstaunlichen Schlussfolgerung::„Die Kunst wird - wo die Wirklichkeit selber zum Ensemble des Fiktiven sich wandelt - ihrerseits zur Antifiktion (†¦) falsches Bewusstsein zu haben ist unvermeidlich, darum muß man es nolens volens akzeptieren; zwar besteht es - malum -aus Illusionen, aber - bonum-durch-malum - nur dadurch können wir handeln. Dieser repräsentative Sinneswandel in Bezug auf die Zweckillusionen ist motiviert durch einen bestimmten Grad der Veränderungsbeschleunigung der modernen Welt.“ 22)Für die Literatur ließe sich dann formulieren: Dicks beste Bücher wirken als Antifiktion, insofern sie uns den fälschlich als „Identifikation mit dem Wirklichen“ massenhaft inszenierten Illusionismus durchschauen helfen. Wer den Reiz von Dicks Romanen erfahren hat, den kann der noch so spannend geschriebene traditionelle Roman nur noch kurzfristig fesseln (unten-halten), weil dort die Reflexion unterfordert wird.Die weit reichenden Konsequenzen einer mehrwertigen Logik (die mathematischen Kalküle dafür existieren schon lange) möchte ich nur kurz noch am Beispiel der „Polykontexturalität“ GGs erläutern. Wenn in Eine Bande von Verrückten/Confessions of a Crap Artist fast jedes Kapitel aus der Innenperspektive eines anderen Protagonisten erzählt wird, deren mehrere Dicks eigener Biographie entstammen, dann gibt es für die Ebene Welt und Ich nicht mehr nur einen gemeinsamen Kontext, sondern so viele Welten, wie es unterscheidbare Erzähler und deren historische Kontexte gibt. Nirgends in diesem experimentellen Roman können wir sicher sein, es nur mit einer „objektiven Realität“ zu tun zu haben. Philosophisch lässt sich das folgendermaßen formulieren: „Ein System heißt polykontextural, wenn es aus mehreren Kontexturen besteht, die untereinander durch die Vermittlungsrelation verknüpft sind.“ 23)Was auf den ersten Blick bei den Dickschen Wirklichkeiten wie die Ausgeburten eines von Drogen vernebelten Hirns erscheinen mag (auch bereits derart denunziert wurde), erweist sich bei genauerem Hinschauen als ein literarisches Formprinzip, das der Verhaftetsein des Denkens an die Verdinglichung zu entkommen trachtet und sich damit auf der Höhe der Zeit befindet. Ein Spezialfall einer zukunftsweisenden Art von Literatur ist Dick für mich insofern, als fast alles von dem, was er mit seinem Leben und Werk anstellte über den gemeinen Menschenverstand (in beiden Bedeutungen) auf konstruktive Weise hinausging, ohne dem romantisch-existentialistischen Sog des Abgrunds zu verfallen, der die moderne Literatur immer wieder im Nihilismus (Nietzsches zurückblickender Abgrund) oder im Verstummen versinken lässt. Dicks Protagonisten sind keine abgedrehten Außenseiter, die sich für was Besseres halten und sich im Menschenhass suhlen. So wenig, wie Dick je mit sich und den verschiedenen Welten, in denen er lebte, sich versöhnen ließ, so wenig wird es gelingen, ihn irgendwo einzugemeinden und einer eindeutigen Positionierung zuzuordnen. Insofern ist Dick mir ein auch heute, beim Wiederlesen seiner besten Romane, noch ungemein anregender Autor, der meine drei Aufspaltungen dazu gebracht hat, diesen einen Essay zu schreiben.Anmerkungen1) Sutin, Lawrence, Philip K. Dick, Göttliche Überfälle, Frankfurt/M. 1994 (Inzwischen überall als gediegenes Hardcover für nur 10,50 € erhältlich. Laut dem „Raben“ eine Biographie, „die in einer zu erstellenden Liste der 20 phantastischen Biographien sicher einen Spitzenplatz einnähme“ - enthält eine ausführliche Bibliographie der Werke von und über Dick von Michael Nagula) 2) Williams, Paul, Only Apparently Real, The World of Philip K. Dick, Arbor House. New York 1986; Die seltsamen Welten des Philip K. Dick, hrg. von Uwe Anton -Meitingen: Corian-Verlag Wimmer, 1984 (Edition Futurum; Bd.7 3) Reimann, Gero A., Dick, eine Opernerzählung, Vom Sterben und Leben eines gott- und weltlosen Gnostikers, id-verlag-momentaufnahme, Hannover 1984 (nirgendwo mehr aufzutreiben)4) Dick, Philip K., Eine Bande von Verrückten, Bekenntnisse eines Schundkünstlers, Leinen, 228 Seiten, übersetzt von Gero Reimann unter Mitwirkung von Jennifer K. Klipp-Reimann, Reidar Verlag, Hamburg 19875) Reimann, Gero, Der Narr im Hologramm des Schreckens, Philip K. Dick und andere Antikanoniker oder für eine naive, unerbittlich subversive Literatur, 157 Seiten, ein Essay von 1882, mit dem ich Gerd Haffmans auf Dick aufmerksam machte, unveröffentlichtes Manuskript6) Kenner, Hugh, Von Pope zu Pop, Kunst im Zeitalter von Xerox, München 1969, S. 207) dazu den Artikel „Die dünne Eierschale der Wirklichkeit/Der Schriftsteller Ernst Augustin in: die horen 161 von 1991, S. 69 bis 848) Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 1299) ebenda, S. 5110) ebenda, S. 5311) Dick, Philip K., Die drei Stigmata des Palmer Eldritch, München 2002, S. 11912) Jeremy Rifkin, Access, Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M 2000, S. 23113) aus dem Nachwort von Paul Williams in: Philip K. Dick, Marsianischer Zeitsturz, München 2002, S. 34414) Dick, Philip K., Wie man eine Welt erbaut, die nicht nach zwei Tagen wieder auseinander fällt, in: Der Rabe, Nr. 59, Zürich 2000, S. 7715) Kafka, Franz, Gesammelte Werke Band 4. Erzählungen, Frankfurt/M, S. 12916) Günther, Gotthard: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen, Hamburg 1978, S.9617) Klagenfurt, Kurt, Technologische Zivilisation und transklassische Logik, Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers, Frankfurt/M, S. 65 - das schmale Bändchen, geschrieben von einem interdisziplinären Autorenkollektiv unter dem Pseudonym Kurt Klagenfurt, ist eine ausgezeichnete Einführung in die Philosophie Gotthard Günthers18) Siehe Anmerkung 16), S. 6619) Siehe Anmerkung 16), S. 140 f20) Siehe Anmerkung 16), S. 14721) ebenda22) in: Marquard, Odo, Aesthetica und Anaestetica, Philosophische Überlegungen, Paderborn 1989, S. 93 und S. 9923) Siehe Anmerkung 16), S. 140© 2005 by Gero Reimann

#2 geronemo

geronemo

    Nochkeinnaut

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Geschrieben 25 November 2007 - 18:40

Hallo genonemo (einer der abgespaltenen)Dazu gibt es nichts mehr zu sagen. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Artikel so genial ist, dass vor der Fülle seiner Aussagen, der Brillianz seiner Diktion und seiner auratischen Unnahbarkeit der Rest der Menschheit - von was auch immer ge- oder betroffen - verstummt.Letztlich geht es mir mit fast allen meinen Veröffentlichungen so, dass niemand sich dazu äußern mag oder kann. Angesichts dieser großen Leere, in der ja alles letzlich verschwinden wird, zitiere ich noch einmal den Titel meines Theaterstücks über die Frage "Wohin mit den alten Säcken?":ES GEHT AUCH OHNE !geronemo


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