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Leo Perutz St. Petri-Schnee


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5 Antworten in diesem Thema

#1 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 29 April 2009 - 08:55

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Dieser Thread ist ein Ableger der Diskussion zu meinem Todorov-Buch. Hier soll Leo Perutz' Roman St. Petri-Schnee hinsichtlich Todorovs Modell abgeklopft werden. Ich gehe dabei davon aus, dass die Thread-Teilnehmer das Buch gelesen haben und verzichte deshalb auf eine Zusammenfassung etc.

Das Ende des Buches präsentiert uns zwei Varianten: 1. Amberg wurde in Osnabrück von einem Auto angefahren und hat seither mehrere Wochen im Delirium im Krankenhaus verbracht. 2. Amberg war in Wirklichkeit in Morwede und hat dort all die Abenteuer mit Bibiche und dem Baron erlebt.

Wir haben hier also eine 'realistische' und eine wunderbare Varinate zur Auswahl; dies spricht mal für reine Phantastik. Aber in einem Punkt taucht hier für mich bereits eine Frage auf: Das Wunderbare hat in St. Petri-Schnee einen klaren SF-Einschlag. Es geht nicht um Ausgeburten der Hölle, Geister etc., sondern um eine Droge. Dass diese Droge religiöse Raserei auslöst, ist sekundär. Wir sind hier sicher in SF-nahen Gefilden, schliesslich ist Bibiche ja ausgebildete Wissenschaftlerin und der Baron liefert quasi einen wissenschaftlichen Beweis für religiöse Ausbrüche in der Vergangenheit. Bei Todorov haben wir es aber, wenn er Beispiele für Phantastik bringt, fast ausschliesslich mit dem "höllischen Wunderbaren", also mit Spuk-Elementen etc. zu tun. Zwar ordnet er SF dem Wunderbaren zu, er bringt sie aber kaum mit Phantastik in Verbindung. Ich sehe hier kein grundsätzliches Problem, wollte das aber erwähnen.

Für Amberg selbst steht am Ende fest, dass nur Variante 2 in Frage kommt. Am Ende ist er felsenfest davon überzeugt, dass all um ihn herum Theater spielen und dass Bibiche in der Schlussszene aus Angst nichts sagt.

Für den Leser ist es wohl tatsächlich unmöglich eindeutig zu entscheiden, was hier vor sich geht. Aber in meinen Augen spricht insgesamt mehr für Variante 1. Alles, was wir von Variante 2 wissen, ist nur durch Amberg selbst bestätigt. Todorov schreibt zwar, dass es in der Phantastik oft einen Ich-Erzähler hat und das hier auch der Fall, allerdings stellt sich dann gleich die Frage, wie zuverlässig dieser Erzähler ist. Wir haben keine externe Bestätigung der wunderbaren Ereignisse. Selbst der Pfarrer, der am Ende an Ambergs Bett steht, wird sonst von niemandem wahrgenommen.

Es deutet aber einiges darauf hin, dass Amberg stark obsessive Züge hat: Er steigert sich schon sehr früh in seine Liebe zu Bibiche. Die Frau arbeitet ein halbes Jahr im gleichen Raum wie er, er wagt nicht, sie anzusprechen, und nachher ist er so verzaubert, dass er ganz Berlin nach ihr absucht und sich dafür in Schulden stürzt. Dann die seltsame Szene vor dem Trödelladen in Osnabrück: Warum wird er von diesem gotischen Antlitz so sehr aus der Fassung gebracht? All das deutet darauf hin, dass Amberg psychisch nicht stabil ist und mit Variante 2 nur einen Wunsch imaginär auslebt. Darauf deutet auch jene Passage hin, in der er die Pflege im Spital quasi schon antizipiert, und auch die teilweise sehr seltsamen Angaben, wo Gespräche stattgefunden haben. Ein Gespräch mit dem Baron scheint beispielsweise an verschiedenen Orten gleichzeitig stattzufinden. Auch das imaginierte Zwiegespräch, das er mit Praxatin führt, als er auf Bibiche wartet, deutet darauf hin, dass er gerne mal ein bisschen phantasiert.

Das stärkste Argument, dass die Ereignisse nicht stattgefunden haben, bringt aber Amberg selbst. Einerseits macht er immer wieder klar, dass er sich die Nacht mit Bibiche nicht nehmen lassen will. Er will also unbedingt glauben, dass sie stattgefunden hat. Zudem sagt er im Gespräch mit ihr auch explizit, dass Träume mitunter vorzuziehen sind (in meiner Ausgabe S. 79).

Er [Praxtin] ist glücklich. Er lebt in einem Traum, und so ist sein Reichtum sicherer als jeder andere. Denn was man im Traum besitz, kann einem eine Welt von Feinden nehmen. Nur das Erwachen, - aber wer wird so grausam sein, ihn aus seinem Traum zu wecken?

Hier wird eigentlich Ambergs Haltung klar formuliert, und ich denke, dass man diese Passage als Schlüssel zum ganzen Roman verstehen kann.

Mein Verdikt wäre: Eindeutig entscheiden kann man den Fall nicht, aber einiges deutet deutet auf eine nicht-wunderbare Erklärung hin.

Und damit wären wir bei einer grundsätzlichen Frage: Wie ist dieser Fall nach Todorov zu bewerten? Müssen - bildlich gesprochen - die beiden Waagschalen Wunderbares/Unheimlich genau auf gleicher Höhe sein, oder reicht es bloss, dass keine eindeutige Aufklärung erfolgt, damit reine Phantastik gegeben ist? Denn eindeutig klären kann man den Fall bei Perutz nicht, in meinen Augen deutet aber vieles auf eine unheimliche Erklärung hin.

Anmerkungen, Ideen?

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Bearbeitet von simifilm, 29 April 2009 - 10:02.

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#2 Robin

Robin

    Infonaut

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Geschrieben 29 April 2009 - 17:31

Edit: Beitrag war Blödsinn - Antwort siehe unten

Bearbeitet von Robin, 29 April 2009 - 23:32.

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#3 simifilm

simifilm

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Geschrieben 29 April 2009 - 18:44

Irgendwie habe ich habe das Gefühl, dass wir ein bisschen aneinander vorbeireden (entweder verstehe ich Dich falsch oder umgekehrt), allerdings ist mir nicht klar wieso. Ich bin mit Dir ja grundsätzlich einig, dass eine eindeutige Entscheidung nicht möglich ist. Aber ich würde auch sagen, dass die wunderbare Variante weniger "Punkte verbuchen" kann als die unheimliche. Es gibt nichts ausserhalb des Erzählers, was dessen Version stützen würde. Aber eben: eindeutig entscheiden kann man es nicht. Und das brachte mich zur Frage, "wie unentschieden" reine Phantastik sein muss. Wahrscheinlich ist das aber einfach zu spitzfindig.

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#4 Robin

Robin

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Geschrieben 29 April 2009 - 23:31

Irgendwie habe ich habe das Gefühl, dass wir ein bisschen aneinander vorbeireden (entweder verstehe ich Dich falsch oder umgekehrt), allerdings ist mir nicht klar wieso. Ich bin mit Dir ja grundsätzlich einig, dass eine eindeutige Entscheidung nicht möglich ist. Aber ich würde auch sagen, dass die wunderbare Variante weniger "Punkte verbuchen" kann als die unheimliche. Es gibt nichts ausserhalb des Erzählers, was dessen Version stützen würde. Aber eben: eindeutig entscheiden kann man es nicht. Und das brachte mich zur Frage, "wie unentschieden" reine Phantastik sein muss. Wahrscheinlich ist das aber einfach zu spitzfindig.

Hm du hast recht. Ich habe dich da völlig falsch verstanden bzw. habe mich etwas am Text festgekrallt statt auf deine eigentliche Frage zu antworten. Komisch :unsure: Ich muss heute Mittag irgendwie nicht ganz auf der Höhe gewesen sein. Sorry. Zur Frage der "reinen Phantastik". Das Bild der Waagschale ist ja sehr treffend. Aber da bekämen wir das Problem, dass wir womöglich manche Stellen verschieden werten. Also wie schwer wiegt die Äußerung des Protagonisten gegenüber einem anderen Hinweis (niemand nimmt den Pfarrer wahr). Ich bin mir unsicher ob man das ganz klar aufrechnen kann und würde mich daher gegen die Idee der absoluten Ausgeglichenheit von Wunderbares/Unheimlich aussprechen. Ich glaube die Unsicherheit ist und bleibt letztlich der springende Punkt. Auch ein kleiner Zweifel, versteckt in einem Text, könnte genügend "Gewicht" haben um die Unsicherheit gegenüber Bergen von Hinweisen der anderen Seite aufrecht zu erhalten.
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#5 Theophagos

Theophagos

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Geschrieben 30 April 2009 - 11:24

Im Großen und Ganzen gebe ich Simon recht. Ich neige vielleicht noch ein wenig mehr zur Unheimlich-Deutung.So sehe ich einen wichtigen Hinweis in Ambergs Erinnerung an den Aufenthalt in Osnabrück: Seine Erinnerung stimmt mit der offiziellen Schilderung bis zum heranbrausenden Auto überein. In der offiziellen Variante wird er angefahren und kommt ins Krankenhaus, er erinnert in den Zug gestiegen zu sein und die Zeitung gelesen zu haben. Die Zeitung aber hatte er während des Zwischenfalls mit dem Auto verloren. Daher so, schließt er, müsse er sie aufgehoben haben. Ich denke, an dieser Stelle werden die realen Erinnerungen und die Fantasie zusammengefügt und die realen Erinnerungen im Zweifelsfall angepasst.Weiter gibt es diverse Hinweise: Er fühlt sich im Krankenbett liegend (S. 57), fühlt sich generell krank (S. 82), etwas zerbricht, eine unsichtbare Person schimpft (S. 99), Leute verschwinden unbemerkt (S. 103) und immer wieder Traum-Referenzen; die wichtigste hatte Simon ja schon genannt. Ich würde auch die Verknüpfung von Pflegepersonal und Morwedern dazuzählen.Was spricht für Ambergs Variante? Ambergs Wort, der Pfarrer und Bibichen. Der Pfarrer kommt und geht von Amberg ungesehen und scheint mir damit eher eine durch eine Hirnblutung hervorgerufene Fantasie als ein realer Besuch zu sein; wenn man alles vertuschen wollte, warum lässt man dann den Pfarrer, der Amberg bestätigt, ungehindert zu ihm? Und Bibichen hat Amberg nie verstanden - warum also gerade in diesem Moment.Ich halte "Sankt-Petri-Schnee" für eine Unheimliche Erzählung mit Restzweifeln.Es gibt übrigens noch eine dritte Variante. Diese ähnelt sehr der wunderbaren, nur, dass nichts wunderbares geschieht. Wir haben keinen guten Hinweis darauf, dass die Droge wirklich Spiritualität erzeugt. Der erste Test mit dem Wilderer hat nicht stattgefunden und doch hat ihn der Baron - anscheinend ein veritabler Spinner - als Erfolg verbucht. Nun haben wir eine unzufriedene Bevölkerung - der Pfarrer warnt mehrfach davor - einen vor den Kommunisten geflohenen Adligen, der Neid/Groll gegen den Baron & Frederico hegt, und jede Menge Freibier. Meistenteils reicht Frust und Alkohol für gewalttätige Ausbrüche schon aus, wenn da jemand noch erklärt, dass es völlig gerecht ist, den Adligen zu hängen, dann fallen auch die letzten Hemmungen. Und Bibichen hat Angst, dass Amberg ihre Rolle in dem Spiel preisgibt - sie könnte man immerhin zu den Rädelsführern rechnen. Alleine das Gerede würde ihr nicht gut tun.Wie ist das nun mit Todorovs Schema zu bewerten? Reichen die Restzweifel um es als Phantastik zu werten? Ich denke ja: So wie ein einzelnes übernatürliches Element reicht, um eine Geschichte zur Wunderbaren zu machen, denke ich reichen auch die geringsten (begründeten) Zweifel um sie zur Phantastischen zu machen.Nebenbei: Die Anmerkung, dass SF wohl zur Todorovschen Phantstik gehört halte ich nicht nur für richtig, sondern auch für erwähnenswert.Theophagos
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#6 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 30 April 2009 - 16:03

Ok, dann scheinen wir uns ja weitgehend einig zu sein. Theophagos Idee einer dritten Variante finde ich interessant. Sicher wird die vom Text selbst nicht explizit herausgestellt (im Gegensatz zu Variante 1 & 2), aber möglich wäre sie schon.Für mich drängt sich bei Perutz' Roman ein Vergleich mit einer typischen Poe-Geschichte auf, bei der wir ja auch einen potenziell instabilen Erzähler haben. Aber vielleicht sollte man dafür noch einmal einen Thread eröffnen ...

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