Bei dem Vergleich zwischen der Länge des englischen Originaltextes und des deutschen Textes sollte man Zeichen zählen, nicht Seiten!
Mir ist nicht ganz klar, warum. Normalerweise rechnet man in "Normseiten", die eine festgelegte Zeichenzahl aufweisen. Natürlich nicht in Buchseiten. Die "30%-Faustregel" ist durchaus auf normierte Textseiten bezogen und beschreibt eine echte Textzunahme, nicht nur eine satzbedingte.
Deutsche Verlage kürzen immer noch, wie ich anhand von »Iron Council« dokumentiert habe. Zwar nicht seitenweise, aber immerhin hie und da ein Wort, einen Satz, dort ein paar Zeilen usw. †” Und schon beim Überfliegen der Leseprobe von »Die Lügen von Locke Lamora« habe ich rausgeflogene Zeilen gefunden. †” Was das Kürzen angeht: da mag es durchaus besser geworden sein, verglichen mit den vergangenen jahrzehnten (Jules Verne-Ausgaben die um 2/3 verschlankt wurden, grusel), aber vorbei ist diese Praxis noch nicht.
Das Kürzen ist definitiv vorbei. Wenn heute etwas wegfällt, kann man das nicht als Kürzen bezeichnen - jedenfalls nicht verglichen mit früheren Praktiken, als man tatsächlich in Übersetzungen Text weggelassen hat,
damit der Text kürzer wird, und aus keinem anderen Grund. Das war oft sogar mit Seitenvorgaben an den Übersetzer verbunden.
Heute gibt es allenfalls noch inhaltliche Gründe für Kürzungen, sprich: Wenn ein Satz wegfällt, dann nicht deswegen, damit der Text kürzer wird, sondern weil irgendwer glaubte, die Übersetzung würde dadurch treffsicherer, "deutscher" oder sonstwie besser. Oder weil der Übersetzer einfach einen Satz übersehen hat, was auch vorkommen kann. Es ist also keine Kürzung im eigentlichen Sinne, sondern Teil der qualitativen Textarbeit, und vor allem gibt es auch keine Verlagsvorgaben mehr, die einen Übersetzer "beauftragen", den Text kürzer zu machen. Mir hat man jedenfalls noch nie so etwas nahegelegt - selbst bei Romanen, bei denen ich das Gefühl hatte, das würde dem Buch gut tun, ist Kürzen mittlerweile verpönt
Im Einzelfall mag es zu hinterfragen sein, wenn aus qualitativen Überlegungen Textstellen wegfallen. Aber ganz von der Hand zu weisen ist die Möglichkeit, dass eine Übersetzung besser wird, wenn man mal einen Satz weglässt, nicht - vor allem dann, wenn der Satz sich sonst nur holprig übertragen ließe oder sich in den deutschen Sprachfluss nur als Fremdkörper einfügen würde. Ohne derartige "qualitative Kürzungen" ließe sich Arno Schmidts Ideal auch überhaupt nicht erreichen, und ganz ohne solche Kürzungen sind nicht mal die 30% zu halten.
Mir ist beispielsweise oft aufgefallen, dass manche Lektoren gerne Wortspiele u.ä. sprachspezifische stilistische Spielereien kürzen, die man zwar mit viel Mühe ins Deutsche retten kann - die dann aber zugegeben oft auch etwas bemüht wirken. Mitunter sehe ich dann, dass der Kollege entsprechende Sätze bei der Bearbeitung kurzerhand rausgeworfen hat.
Für den Eisernen Rat kann ich so was allerdings ausschließen - immerhin hab ich den ja selbst bearbeitet und weiß, dass ich eigentlich nicht zu Kürzungen "vorsichtshalber, weil ja jemand drüber stolpern könnte" neige. Da blieben eigentlich nur übersehene Sätze oder solche, bei denen letztlich irgendjemand anderes oder ich aus anderen Gründen beschlossen hat, dass sie in der Übersetzung besser nicht berücksichtigt werden. Dass da jemand "kürzen" wollte oder sollte, kann ich jedenfalls ausschließen - außer womöglich im Satz, wo es mitunter unvermeidlich ist, auch bei Originalromanen.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)