Das Cusanus-Spiel

Die erste Frage, die sich mir bei der Lektüre aufdrängte war: Hat Jeschke es geschafft? Versteht dieser Mann, wie Frauen ticken? Schließlich hat er sich einiges vorgenommen, wird die Handlung doch in der ersten Person aus der Sicht einer jungen Biologin erzählt. Sieht man einmal von Domenica Ligrinas auffälliger Vorliebe für kalorienreiche Speisen und ihrer überragenden geistigen Reife ab, so hat es den Anschein, als habe sich Jeschke recht gut in die Materie eingearbeitet!
Überhaupt sind sämtliche Aspekte der Handlung aufwendig recherchiert und reich an liebevoll zusammengetragenen Details. Immer wieder wird der eigentliche Plot von ausgereiften Nebenhandlungen umrahmt, darunter die Geschichte einer tragisch gescheiterten Marsmission und die Historie eines alternativen Universums (1999 vorab als Kurzgeschichte „Die Cusanische Acceleratio“ erschienen und mit dem Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet).
Das Grundgerüst des Romans bildet eine düstere Dystopie. Verfall, Verrohung und die Folgen des menschgemachten Klimawandels und einer verheerenden Reaktorkatastrophe im französischen Cattenom lehren den Leser das Schaudern. Einzig die jungendliche Zuversicht der Protagonistin und ihrer Begleiter setzt einen befreienden Kontrapunkt zu der beklemmenden Situation.
Von Beginn an feilt Jeschke an einem Spannungsbogen, der wie ein Damoklesschwert über dem Kopf seiner Heldin schwebt und sie einem scheinbar unausweichlichem Schicksal entgegenführt. Doch wer meint, die Handlung voraussehen zu können, wird schnell zum Spielball des gerissenen Erzählers.
Das wird besonders im letzten Viertel des 700 Seiten starken Romans deutlich, in dem die Erzählung vermeintlich für einen kurzen Moment an Spannung einbüßt. Domenica muss sich über eine ganze Serie unkluger Entscheidungen wundern, der Leser über die Vorhersagbarkeit des Geschehens. Aber Jeschke täuscht beide und bereitet so den Boden für einen fulminanten und schwer vorhersehbaren Abschluss.
Das Thema Zeitreise war schon immer ein kniffeliges, da es neben einer klaren Prämisse einiger Anstrengungen bedarf, um innerhalb der festgelegten Parameter Kontinuität zu bewahren. Das gelingt Jeschke unbestritten und das Konzept, das er der Zeitreisetechnologie in der Mitte des 21. Jahrhunderts zu Grunde legt, dürfte so ausreichend detailliert wie vage genug dargelegt sein, um auch den hart gesottenen Skeptikern zu gefallen. Mit dem Faden um Highgate, einem Ort, „durch den die Grenzen zu den lebensfeindlichen Universen verlaufen“, einem Ort, „an dem die Zeit endet und der Zeitpfeil sich unschlüssig hin und her dreht“, wird die Handlung um ein phantastisches Element ergänzt, das eine Reduktion der Thematik auf logische Stringenz und naturwissenschaftliche Plausibilität geschickt unterwandert. „Das Cusanus-Spiel“ bietet also keine Angriffsfläche für Haarspaltereien oder das Zählen von Erbsen und rückt die Geschichte in den Mittelpunkt der Erzählung.
Fazit: ein überaus interessantes und unterhaltsames Buch, das auf eindringliche Weise und in dichtester Kugelpackung das schriftstellerische Talent Wolfgang Jeschkes zum Ausdruck bringt.
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